Der Ezähler in der realistischen und postmodernen Literatur

Vorwort zu einem nicht zu Ende geschriebenen Buch (2005)

Vor sechs Jahren verfasste ich zum letzten Mal einen so genannten "wissenschaftlichen Werdegang", um mich für ein Forschungsprojekt zu bewerben. Damals schrieb ich:
"Nach dem Abitur absolvierte ich zunächst ein Pädagogikstudium in den Fächern Russisch und Deutsch. Enthalten war darin ein einjähriger Studienaufenthalt an einer sowjetischen Hochschule. Als sich abzeichnete, dass ich aus gesundheitlichen Gründen (die amtliche Anerkennung meiner Schwerbehinderung erfolgte 1992) nicht den Beruf einer Lehrerin ausüben konnte, erwarb ich an der Universität Jena den Abschluss einer Diplomphilologin in der Fachrichtung Slawistik. In den darauf folgenden Jahren promovierte ich zum Thema: "Viktor Šklovskij (1893-1984). Leben und Werk bis zum Beginn der dreißiger Jahre unter besonderer Berücksichtigung des Verfremdungsbegriffes und seiner Entwicklung", wobei ich einen wesentlichen Teil des Materials während eines fünfmonatigen Studienaufenthaltes an der Staatlichen Universität Moskau sammelte.
Nach dem erfolgreichen Abschluss meiner Dissertation (ich habe sie 1993 überarbeitet, sie liegt gedruckt vor) im Jahre 1986 galt das Hauptaugenmerk meiner wissenschaftlichen Arbeit dem Projekt "Utopien in der russischen und sowjetischen Literatur", das 1988 im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturabkommens gemeinsam von Wissenschaftlern der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft (ab 1990 wieder Institut für Slawistik) der Universität Jena und des Slavischen Seminars der Universität Göttingen - unter der Leitung von Professor Reinhard Lauer - ins Leben gerufen und 1992 abgeschlossen wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden jährlich Konferenzen durchgeführt. Ich verfasste insgesamt fünf Artikel, die im Manuskript vorliegen. Ich spezialisierte mich also auf die russische Literatur des 20. Jahrhunderts, was sich auch in den von mir durchgeführten Lehrveranstaltungen widerspiegelt.
Nach dem Abschluss des umfangreichen Projektes begann ich nach einem geeigneten Thema für eine Habilschrift zu suchen. Ich entschied mich für die zeitgenössische russische Frauenliteratur, vor allem für die sechziger und siebziger Jahre, da für diese Zeit zwar eine Reihe von Einzelstudien existiert, aber noch keine komplexe Untersuchung vorliegt. Zu Aspekten dieses Themas sprach auf dem Slawistentag im Oktober 1994, einer Konferenz zum Thema Frauenliteratur, die im Dezember 1995 in Erfurt stattfand, sowie weiteren Veranstaltungen und veröffentlichte mehrere Artikel.
Um die an ostdeutschen Hochschulen übliche Reduktion auf die Russistik zu überwinden, begann ich mit dem Erlernen der serbokroatischen Sprache, belegte Sprachübungen sowie Vorlesungen und Seminare, die im Jenaer Slawistischen Institut zur südslawischen Literatur angeboten wurden und führte selbst Lehrveranstaltungen durch. Ich veröffentlichte Artikel über die zeitgenössischen serbischen Schriftsteller Danilo Kiš und Aleksandar Tišma, wobei ich mich hier erstmals dem theoretischen Problem der Postmoderne und insbesondere der Bedeutung des Erzählers in der postmodernen Literatur zuwandte.
Infolge der an der Universität Jena durchgesetzten Befristung der Stellen im akademischen Mittelbau und der Ablehnung einer Verlängerung meines Arbeitsvertrages wurde ich im April 1997 arbeitslos. Im Oktober 1998 erhielt ich eine ABM-Stelle im Rahmen des von Frau HD Dr. Christina Parnell geleiteten Projektes "Russische Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts". Ich erarbeitete eine Datenbank für seit 1993 veröffentlichte Texte russischer Autorinnen, die außer den bibliographischen Angaben auch Material für die Textanalyse bereitstellt sowie Informationen zu Fragestellungen von Gender und Alterität gibt."
Im Jahre 1999 beendete ich die ABM, um ein vom Land Thüringen gefördertes Projekt zur russischen Literatur zu beginnen. Der Vertrag, der über zwei Jahre laufen sollte, wurde vom Land nach einem Jahr gekündigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine Menge Literatur gelesen und exzerpiert, eine Konzeption geschrieben und einige Seiten ausformuliert. Ich hätte auch danach weiterarbeiten können, denn ich bekam Arbeitslosengeld, und die Aussicht auf eine neue Anstellung war gering. Ich versuchte es, aber die Motivation fehlte. Ich beschloss, die Literaturwissenschaft aufzugeben und begann eine Fortbildung als Datenbankentwickler. Nach Ende der Ausbildung war ich wieder arbeitslos, bekam aber dann - mit Hilfe eines fetten Lohnkostenzuschusses - eine Stelle als Webdesigner. Die Firma ging Bankrott, ich stand wieder auf der Straße. Im drohenden Angesicht von Hartz IV beantragte ich eine Ich-AG. Die Webseitengestaltung füllt mangels Aufträge meine Zeit nicht aus, und so las ich immer mal wieder meine Arbeiten.
Seit Beginn der neunziger Jahre hatte ich drei große Themen bearbeitet: Utopien in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, russische Frauenliteratur der 60er bis 90er Jahre, russische und serbokroatische postmoderne Literatur.
Das Utopie-Projekt ist abgeschlossen. Ich habe die Aufsätze mehrmals überarbeitet, aber meines Wissens wurden sie bis heute nicht veröffentlicht. Zurzeit sind Utopien nicht gerade gefragt (und als ich vor einiger Zeit doch einen Artikel darüber fand, stammte die dort genutzte Literatur aus den achtziger Jahre).
Das Interesse für die Frauenliteratur ergab sich ganz zwangsläufig aus der Bekanntschaft mit dem Feminismus und wurde während der Projekte an der PH in Erfurt nach vielen Seiten hin erweitert. Und die Beschäftigung mit der Postmoderne ist unter anderem eine Reaktion auf das Scheitern der sozialistischen Ideologie.
Die Konfrontation mit dem anderen System, die den beruflichen Werdegang radikal veränderte, bedeutete auch den Verlust des sicher Gewussten und Geglaubten.
Jetzt, nach fünf Jahren beruflicher Abstinenz, habe ich genügend Distanz, um den Versuch zu wagen, das gesammelte Wissen aufzuarbeiten und anderen Lesern zur Verfügung zu stellen.
Verstreut auf Computer-Festplatten, Disketten und CDs habe ich einige vollständige, in sich geschlossene Texte gefunden, vor allem aber Bruchstücke zu den unterschiedlichsten Themen und Autoren. Daraus ein Buch zu machen bedeutet, ein Ganzes zu produzieren, das kein Ganzheitlichkeit ist, sondern ein Neben- und Nacheinander, dessen innere Zusammenhänge zu einer Struktur finden.
Mitte der neunziger Jahre, als ich noch an der Uni arbeitete, hielt ich Vorlesungen zur südslavischen Literatur. Eins der markantesten Bücher der 80er Jahre war "Das Chasarische Wörterbuch" von Milorad Pavic, der die Geschichte des Stammes der Chasaren in Form eines Lexikons erzählt. Das brachte mich auf die Idee - nicht ein Lexikon zu verfassen, aber eine freie Form für das Buch zu wählen. Ist die (Literatur)wissenschaft nur noch Hobby, braucht man sich um viele Dinge nicht zu kümmern: den Forschungstand (ohnehin kaum zu überblicken) oder die gerade aktuellen Theorien. Es hat mich immer gestört, dass es in der westdeutschen Literaturwissenschaft offenbar üblich war, sich erst eine Theorie auszudenken und dann nach dazu passenden literarischen Werken zu suchen.
Wahrscheinlich bin ich durch meine Dissertation zu dem russischen Theoretiker Viktor Šklovskij und dessen Konzept Verfremdung geprägt, aber mich hat immer interessiert, wie ein literarisches Werk gemacht ist, welche literarischen Verfahren (beides Begriffe der russischen Formalen Schule, zu der Šklovskij gehörte) welche Wirkungen hervorrufen. Wie entsteht eine literarische Botschaft - wenn es sie gibt - und welchen Einfluss hat die Form des Textes auf den Inhalt?
Die genauere Beschäftigung mit dem Erzähler lag daher auf der Hand, denn in erzählenden Text trägt er die Hauptverantwortung für die Wirkung.
Die damalige Lektüre der Forschungsliteratur glich oft einem Albtraum. Fast jeder Artikel brachte andere Aspekte ein, die Verwirrung wuchs ständig und Ordnungsversuche brachten immer nur zeitweise Besserung. Heute würde ich sagen, dass dies keine Verwunderung oder Schlimmeres hätte auslösen sollen, weil es unzählige Möglichkeiten gibt, Texte zu schreiben und damit auch, diese zu beschreiben. Eine allgemein gültige Theorie zum Erzähler ist somit überhaupt nicht möglich. Wenn man das akzeptiert, kann man analysieren, was und wie man will. Und ich möchte herausfinden, welche Möglichkeiten es beim Erzählen von Geschichten gibt und welche Wirkungen wie erzielt werden. Da ich aber etliche Seite zum Forschungstand geschrieben habe (der Geschichte des Gegenstandes bis zum Ende der neunziger Jahre), möchte ich das der geneigten Leserin und dem hoffentlich ebenso geneigten Leser nicht vorenthalten, muss sie und ihn aber warnen - es ist eine schwer verdauliche Lektüre, und Ergebnisse sind nur bedingt zu erwarten.

Wie gesagt, habe ich auch zur Utopie und zur so genannten wissenschaftlichen Phantastik, zur Frauenliteratur sowie zum Verhältnis von Realismus und Postmoderne (in der russischen und südslavischen Literatur) geforscht. Aber in den meisten Aufsätzen, Artikeln und Fragmenten finden sich Analysen zum Erzähler. Ich werde daher die Analysen "herausholen" und als Beispiele für meine Auffassungen zum Erzähler benutzen.
Ich werde weder voraussetzen noch verlangen, dass die untersuchten Texte allgemein bekannt sind, denn das Buch wendet sich nicht speziell an Slavisten. Es beansprucht schon Allgemeingültigkeit - zumindest Unabhängigkeit von einer Nationalliteratur - und setzt keine speziellen Kenntnisse voraus. Deshalb werden die Autoren und die besprochenen Werke gesondert behandelt - im Stile kurzer Vorträge. Dieses Konstrukt wird durch weitere Texte zu verschiedenen literaturwissenschaftlichen Themen ergänzt - Texte, die ich nicht mehr veröffentlichen konnte und die ich für interessant genug halte, sie hier zu bringen.

Das Buch muss also nicht von vorn nach hinten gelesen werden, und es kann für verschiedene Zwecke benutzt werden - als Einführung in einen wesentlichen Aspekt der Erzähltheorie, als Anregung für die Lektüre (denn alle vorgestellten Bücher kann ich nur zur Lektüre empfehlen) oder als Teil der Forschung zur russischen und südslavischen Literatur. Beginnen möchte ich jedoch mit Überlegungen zur wissenschaftlichen Methodologie und "meinem" Vier-Stufen-Modell zur Literatur.