Das Vier-Ebenen-Modell

Die Entwicklung der russischen Literatur ist Folge der Veränderungen der Gesellschaft, welche zugleich auf diese zurückwirken. So hat die Literatur Funktionen verloren und neue hinzu gewonnen.
Diese Phänomene sollen anhand eines Vier-Ebenen-Modells erläutert werden.
Unter den Bedingungen eines Industriestaates erfüllt die Literatur sehr unterschiedliche Funktionen, die als
  1. elementar-trivial
  2. unterhaltend
  3. anspruchsvoll
  4. elitär
beschrieben werden können.

(1) Die Trivialliteratur erfüllt elementare Bedürfnisse von Rezipienten mit geringer Bildung. Sie unterhält und lenkt ab, verbreitet Illusionen oder befriedigt Aggressionen.

(2) Die Unterhaltungsliteratur richtet sich an das "mittlere" Publikum. Sie will in erster Linie unterhalten, andere Funktionen (z.B. Welterkennung, Gesellschaftskritik) sind jedoch möglich und sogar erwünscht - ebenso wie Innovationen sprachlicher oder kompositorischer Art - solange die Unterhaltung/Spannung dadurch nicht geschmälert oder gefährdet wird.

(3) Literatur, die vor allem etwas aussagen will, über eine Botschaft verfügt und daher nicht "von allen" verstanden oder akzeptiert werden will, doch auf eine allgemeine Wirkung aus ist.

(4) Texte, die bewusst "anders", auf eine Weise innovativ sind, dass sie nur von wenigen Lesern, vor allem Insidern, gelesen und verstanden werden.

Ein solches Modell vereinfacht natürlich. Die Mehrzahl der Texte wird möglicherweise zwischen die einzelnen Stufen einzuordnen sein. Jedoch lassen sich anhand des Modell die Unterschiede der Literaturverhältnisse darstellen.
Literarische Kommunikation auf marktwirtschaftlicher Grundlage funktioniert anders als auf realsozialistisch-ideologischer.
Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ist die veröffentlichte Literatur wesentlich vielfältiger, dies aber vor allem in den Bereichen (1) und (4), also an der "unteren" und "oberen" Grenze. Quantitativ wird die literarische Produktion von (1) und (2) beherrscht.
In der realsozialistischen Gesellschaft waren Trivialliteratur und elitäre Literatur gleichermaßen mit ideologischen Tabus belegt, dafür wurde die Anspruchsliteratur gefördert und war durch die staatliche Preisgestaltung mehr Menschen zugänglich. Rein quantitativ ist (3) am weitesten verbreitet.
In den Bereichen der Literaturwissenschaft und -didaktik gab es weniger Unterschiede darin, welche Art Literatur sanktioniert wurde. Hier sind nur (3) und (4) relevant.
Für die sowjetische Literaturverhältnisse gilt, dass (1) nicht existierte (falls man nicht einige Werke, die das Paradigma des "sozialistischen Realismus" erfüllten, als "sozialistische Trivialliteratur" bezeichnen will), (4) nur im "Underground".
(3) unterlag ideologischen und künstlerisch-literarischen Beschränkungen, die dann mit Beginn der Perestrojka allmählich verschwinden. Zugleich verliert die Literatur ihre Ersatzfunktion, was vor allem Konsequenzen für Stufe (3) hat.
Durch die Herausbildung der Marktwirtschaft gewinnen (1) und (2) an Bedeutung, (4) wird gedruckt, aber nicht unbedingt gelesen. Für den Rezipienten sind die Folgen weniger gravierend als für die SchriftstellerInnen sowie die Literaturdidaktik/wissenschaft.
Das Vier-Stufen-Modell soll darauf verweisen, dass ein Text in erster Linie auf seiner Stufe/Ebene wahrgenommen und auch so bewertet werden soll.

Bisher nicht berücksichtigt wurden die "Randbereiche" der Literatur, der vielgestaltige Bereich zwischen "Belletristik" und "Sachliteratur". Sachliteratur wiederum kann als Gebiet zwischen Belletristik und "wissenschaftlicher" Literatur betrachtet werden, wobei das Erlangen von Informationen und Erkenntnissen im Vordergrund steht.

Ein wesentliches Merkmal "schöngeistiger" Literatur ist die Fiktionalität. So beschreibt Dietrich Weber den Standardtyp der Erzählliteratur als "fiktionale, illusionistische, autor- und erzählerverleugnende, aliozentristische Autorerzählung in der dritten Person". Das Ausgedachtsein von Figuren und Handlungen (mitunter auch von Raum und Zeit) und die damit verbundene bewusste Strukturierung/Komposition ist eine Voraussetzung für das Wirken von Literatur, insbesondere der realistischen, da diese keine "erkenntnistheoretisch wertlose Wiederholung der Realität (Kohl, Realismus) bieten soll.
Die Fiktion setzt der Literatur auch Grenzen, da sie das ist, was nicht ist, sie Sinnhaftigkeit, Wahrheit usw. nicht dem Sein selbst, sondern dessen Bearbeitung entnimmt.
Fiktionalität außerhalb der Grenzen von Literatur erscheint daher als Lüge.
In einer postmodernen Sehweise sind jedoch nicht nur Figuren und Handlungen fiktiv, sondern auch Themen und Ideen.

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