Realismus: Geschichte und Gegenwart

Entstanden ist der Begriff bekanntlich im "Universalienstreit" der scholastischen Philosophie des Mittelalters, in dem universale und konkrete Begriffe gegenüber gestellt wurden. Auf die Literatur angewandt wird der Begriff seit dem 19. Jahrhundert, alltagssprachlich bedeutet "Realismus" heute das "Machbare".
Für den Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft gibt es, wie ein Literaturlexikon feststellt, keine "wirklich befriedigende Definition" (G. u. I. Schweikle (Hrsg.), Metzlers Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler²1990, S. 375). . Als Ursache dafür werden die vorhandenen gegensätzlichen philosophischen Wirklichkeitsauffassungen, aber auch die Tatsache benannt, dass Realismus ist nicht nur ein beschreibender und klassifizierender, sondern immer auch ein polemischer Begriff war und ist. Relative Einigkeit besteht darüber, dass der Begriff auf eine historische Epoche bezogen werden kann, nämlich auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, in der auch der Realismus als spezifische Ausprägung eines künstlerischen Werkes erstmals diskutiert und als Programm festgelegt wurde.
"Die Kunst soll ein getreues Abbild der Wirklichkeit geben und deshalb zeitgenössisches Leben und zeitgenössische Sitten genau schildern und sorgfältig analysieren. Sie soll dies leidenschaftslos, unpersönlich und objektiv tun." (R. Wellekt, Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft, in: S. 406.)
Die Mehrheit der Theoretiker geht inzwischen davon aus, dass es Realismus in der Literatur bereits in der Antike gegeben hat, er also ein typologisches Merkmal von Literatur ist. Dieses zeigt sich in einem spezifischen Verhältnis zur Wirklichkeit, das Abbildung und Gestaltung miteinander verbindet.
"Erst die spezifisch künstlerische Auswahl und Anordnung von Fakten aus der phänomenalen Wirklichkeit konstituiert Realismus und vermeidet, daß im Kunstwerk eine erkenntnistheoretisch überflüssige Wiederholung der Realität stattfindet. Freiheit im Umgang mit den Tatsachen der und Dingen der äußeren Wirklichkeit macht es erst möglich, daß das realistische Kunstwerk Ordnung und Deutung der Welt zu leisten vermag." (St. Kohl, Realismus. Theorie und Geschichte, S. 191.)

Auch heute noch ist die realistische Literatur geprägt vom Wirklichkeitsbezug des 19. Jahrhunderts und dessen naturwissenschaftlichen, philosophischen und sozialen Strömungen der Zeit. Es wird davon ausgegangen, dass eine Wirklichkeit existiert, die abgebildet werden kann mit dem Ziel, Erkenntnisse über sie zu erlangen. Diese Erkenntnisse sollen wahr sein und eine Bewertung der jeweiligen Wirklichkeiten zulassen. Diesen Zielen ist die künstlerische Gestaltung untergeordnet. Annahme, Diskussion und Entwicklung des Realismusbegriffes erfolgte in den einzelnen Nationalliteraturen auf sehr unterschiedliche Weise. (R. Wellek, Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft, S. 407 ff.)

Zur Realismusdiskussion in Russland
Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist vom Realismus geprägt, wobei dieser vor allem als allseitige und wahrhaftige Darstellung des Lebens in seinen Erscheinungsformen verstanden wurde, wobei als wesentliche Veränderung der künstlerischen Gestaltung die Aufwertung des Helden, literarischen Figuren insgesamt zu konstatieren ist. (Vgl. K. Städtke, Ästhetisches Denken in Rußland. Berlin und Weimar 1978, S. 216.) Während der Realismus-Begriff selbst erstmals 1864 in einem Wörterbuch erscheint, werden schon in den Jahrzehnten zuvor Diskussionen über Wesen und Funktion von Kunst und Literatur geführt.
Wesentlich sind hierbei zunächst die Auffassungen Visarion Belinskijs, der Kunst als spezifische Art der Weltbetrachtung und Welterkenntnis sah, wobei das Kunstwerk als ganzheitlicher Organismus Allgemeines und Besonderes, Idee und Bild in Übereinstimmung bringen muss. Die Korrespondenz mit philosophischen Ideen lässt sich spätestens mit den Diskussionen um die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht verwirklichen. Der Literatur wird immer mehr eine ideologiekritische und bewusstseinsbildende Funktion zugeschrieben. Insbesondere Nikolaj Cernyševskij forderte eine Bewertung literarischer Werke nach der außerästhetischen Bedeutung ihrer Gegenstände und Ideen. (Vgl. ebd., S. 232, 237).

Im Grunde bewegt sich die russische Diskussion immer um die Funktion von Literatur.
Auch Georgij Plechanov, der im ausgehenden 19. Jahrhundert die Verbindung zur marxistischen Theorie herstellt und davon ausgeht, dass sich mit der Herausbildung eines "Klassenbewusstseins" bei den Arbeitern eine neue Kultur entwickelt, fordert eine getreue Abbildung der Wirklichkeit, verbunden mit der Neukonzeption eines proletarischen Helden.
Die aufkommenden Strömungen der Moderne betrachtete Plechanov als Kunst des gesellschaftlichen Niedergangs, in der diese keinen relevanten Inhalt hat und daher eine Konzentration auf die Form erfolgt. (Vgl. ebd., S.290, 314.)
Die Herausbildung der russischen Avantgarde verweist jedoch auf die Versuche, die sich verändernde "Inhalte" mit neuen Mitteln künstlerisch zu bewältigen. Die gesellschaftlichen Umbrüche nach der Revolution brachten viele Jahre künstlerischer Experimente, die die Theorie zu beschreiben und zu analysieren versuchte. Für die erzählende Literatur sind dies zum Beispiel die vielfältige Einbeziehung faktographischer Genres, die Versuche der Erneuerung der Unterhaltungsliteratur oder die Montage.
Die realistische Literatur erlangte erst in den dreißiger Jahren ihre Dominanz wieder, mit der Proklamation des "sozialistischen" Realismus. Die Frage, wie die Literatur am effizientesten ihre Funktion als Form der Welterkenntnis, vor allem ihre erzieherischen und bewusstseinsbildenden Aufgaben erfüllen könnte, war normativ beantwortet wurde. Die Nachahmung der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit vergröberten ideologischen Vorstellungen blieb vorrangig bis zur 2. Hälfte der fünfziger Jahre.

Die Epoche des Realismus prägt die Literatur bis heute. Die Herausbildung verschiedenster Strömungen der Moderne auf der eine und die Entwicklung der Unterhaltungsliteratur auf der anderen Seite haben die realistische Literatur verändert. Ihre dominante Stellung verlor sie bezogen auf die einzelnen nationalen Literaturen in unterschiedlicher Weise und nur zeitweise. Mit dem Aufkommen der Postmoderne beginnt ein neuer Anpassungsprozess, in dessen Ergebnis die realistische Literatur "Schreibweisen" der Postmoderne übernimmt, während eine postmoderne Weltsicht ihren Ausdruck in einem an der realistischen Literatur geschulten Erzählen findet. Realismus und Postmoderne können als zwei Pole betrachtet werden, zwischen denen ein "postmoderner Realismus" und eine "realistische (vom Realismus geprägte) Postmoderne" zu finden sind.
Dann wäre die (kritische) Literatur der sechziger Jahre nicht im nachhinein zu einer (unfreiwilligen) Postmoderne zu erklären, sondern als sich - infolge verändernder Weltsicht -verändernde realistische Literatur .

Die russische Literatur der 90er Jahre
Wenn über die russische Literatur der neunziger Jahre gesprochen werden soll, muss deren Spezifik beachtet werden, was zunächst bedeutet, auf die außerordentliche große Bedeutung hinzuweisen, die die sowjetische Literatur bis zum Zerfall des Landes innehatte.
Ursache war die Funktion der Literatur, die weit über das Maß der in westlichen Staaten üblichen hinausging.
Neben einer sehr ausgeprägten Bildungs- und Erziehungsfunktion wurde der Literatur zugebilligt, die Wahrheit über das Leben, Geschichte und Gegenwart zu kennen sowie die Fähigkeit zugestanden, die Gesellschaft verändern, zumindest aber beeinflussen zu können. In Konsequenz konnten waren kritische Autorinnen und Autoren ihre Werke nicht veröffentlichen bzw. waren sogar Verfolgungen ausgesetzt.
Aufgrund dieser Besonderheiten erreichte die Literatur in den Jahren der Perestrojka einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung, um nach dem Zerfall der Sowjetunion umso tiefer in das "Loch" der Marktwirtschaft zu fallen.
Die bis dahin eher verdrängte Unterhaltungsfunktion der Literatur erlangte nun die Bedeutung, die sie anderenorts längst hatte, und der übermächtige Anspruch auf Erziehung und Bildung wurde zurückgedrängt. Die Vorstellung aber, über die künstlerisch-literarische Gestaltung wesentliche Aussagen über die Realität machen zu können, blieb weitgehend erhalten. Die "ernste" (realistische) Literatur behauptete sich, auch wenn sie nicht mehr diesen Umfang hatte wie zu sowjetischen Zeiten und nun neben Unterhaltungs- und Trivialliteratur (einheimischer und ausländischer) auf der einen und elitärer postmoderner Literatur auf der anderen Seite existiert. Literatur blieb Mittel zur "Lebensbewältigung", und steht eine sehr vielgestaltige Literatur zur Betrachtung bereit.

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