Literaturwissenschaftliche Methode, Literatur als Funktion

Eine angemessene Methode zur Bearbeitung eines gewählten Themas zu finden, erweist sich im Zeitalter des Pluralismus in der Forschung als schwierige Entscheidung.

Es gibt inzwischen so viele verschiedene Theorien, dass sie nach der ihrer philosophischen Grundrichtung (positivistisch, phänomenologisch, marxistisch...), der Herkunftsdisziplin (linguistisch, psychoanalytisch, soziologisch...) und ihre Ausrichtung auf den Autor, den Text oder den Leser (oder alles zusammen) unterschieden werden. Hinzu kommt, dass die einzelnen Richtungen ineinander übergehen, verschwinden, sich neu bilden usw., jedoch nicht alle untereinander kompatibel sind. Der naheliegende Versuch, Strukturalismus, Phänomenologie oder Strukturalismus miteinander zu verbinden, führt daher "mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Nervenzusammenbruch als zu einer glänzenden wissenschaftlichen Karriere." (T. Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart: Metzler ²1992, S. 191.).

Allen Literaturtheorien gemeinsam ist jedoch, dass sie sich ihre Grundlagen von anderen Disziplinen "geborgt" haben.

Auf die Teildisziplinen der Literaturwissenschaft trifft diese Aussage nicht zu. Sie sind originäre Richtungen innerhalb der Literaturwissenschaft. Im Gegensatz zu ihren "allgemeinen Vettern" untersuchen Erzähltheorie (Narrativistik), Dramentheorie usw. Texte, ohne auf deren Inhalt sowie Aussage einzugehen oder zumindest, ohne ihn zu bewerten oder einzuordnen.

Demzufolge lassen sich literaturwissenschaftliche Untersuchungen grundsätzlich danach unterscheiden, ob ihr Ziel vorrangig die Analyse oder die Interpretation eines Textes ist, ob es darum geht, wie der Text "gemacht" ist oder welche (philosophischen, psychoanalytischen usw.) Thesen sich anhand der Figurenkonstellationen, -konflikte u.ä. sich beweisen lassen.

Die Auswahl der Texte richtet sich nach der jeweiligen Theorie, die "bewiesen" werden soll (d.h. in einschlägig ausgerichteten Aufsätzen wieder immer wieder die gleichen literarischen Werke erwähnt bzw. interpretiert), während die analytisch ausgerichtete Literaturwissenschaft den Ehrgeiz hegt, dass ihre Ergebnisse für möglichst viele Texte gelten soll, was bedeutet, dass vom Geschehen, vom Inhalt abstrahiert wird. Die dritte Möglichkeit, "Inhalt" und "Form", Aussage und Struktur von Texten lediglich zu beschreiben, findet sich in der Literaturgeschichtsschreibung und der Literaturkritik.

Beschreibung, Analyse und Interpretation können zusammengehören (von "Niederen" zum "Höheren", vgl. Schutte), in der Praxis (Ziel des Artikels, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Richtung) wird zumindest der Schwerpunkt auf eines der drei Methoden gesetzt.

Warum sich Theoretiker und Analytiker nicht einigen können, liegt daran, dass bereits die Frage, was Literatur eigentlich ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Terry Eagleton hat darauf verwiesen, dass weder Fiktionalität noch eine besondere Sprachverwendung noch eine angenommene Zweckfreiheit das Wesen literarischer Texte hinreichend bestimmen. Für ihn ist Literatur daher ein funktionaler Begriff (Ebd., S. 10.), das heißt, welche Texte als Literatur angesehen werden, ist von der jeweiligen Zeit und den Rezipienten abhängig. Im Lichte der bereits viele Jahrhunderte dauernde Entwicklung der Literatur sowie der gravierenden Veränderungen im 20. Jahrhundert erscheint es plausibel, dass Texte zum Beispiel zunächst nicht als Literatur geschrieben, später aber als solche rezipiert wurden (bzw. umgekehrt). Daher können aufgrund jeweils vorhandener kulturell-ästhetischer Konventionen und Erfahrungen Texte aber auch signalisieren, dass sie als literarische gelten (wollen). Texte, die unter den jeweiligen Bedingungen als literarisch gelten (funktionieren), bilden einen Teil der literarischen Kommunikation. Dazu gehören den Prämissen der empirischen Literaturtheorie die Literaturproduktion, Rezeption, Vermittlung.

Die Grundprämisse für das theoretische und methodische Herangehen ist die Darstellung von Literatur als Funktion, wobei diese historisch veränderbar ist und in erster Linie von den ökonomischen Gegebenheiten abhängig Ausgehend von der Auffassung, dass die ideologischen Verhältnisse auf den ökonomischen beruhen, ergeben sich unterschiedliche Literaturverhältnissen in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen. "Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische usw. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis." (Friedrich Engels, Brief an W. Borgius. 25.1. 1894. In: MEW, Bd. 29. Berlin 1968, S. 206.)

Literarische Texte existieren nicht in einem "luftleeren Raum", sondern in einem offenen, veränderlichen System von Verhältnissen. Dazu gehören neben den Produzenten der Texte die Institutionen der Verteilung (Verlage, Buchhandel) und Vermittlung (Schulen / Hochschulen, Literatutkritik in den verschiedenen Medien).

Daraus ergeben sich unterschiedliche literarische Verhältnisse für marktwirtschaftlich orientierte (kapitalistische) und planwirtschaftliche (sozialistische) Systeme, was für die Analyse der sowjetischen und postsowjetischen/russischen Literatur von Bedeutung ist.

Das sowjetische Literatursystem, so wie es sich vom Beginn der sechziger bis zur Mitte der achtziger Jahre darstellt, zeigt auf der einen strenge Kriterien bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Literatur, vor allem ideologische. Anzahl und Umfang der Publikationen erfolgen nach ideologischen, ästhetischen und bildungspolitischen Maßstäben, es gibt nur eine geringe Verbreitung von Kriminal, Abenteuer- und sonstiger Unterhaltungsliteratur.

Auf der anderen Seite wir Literatur staatlich gefördert. Buchpreise sind subventioniert, ebenso wie die in hohen Auflagen erscheinenden zahlreichen regionalen und landesweit verbreiteter Literaturzeitschriften.

Literatur ist ein wesentlicher Bestandteil von Schulbildung. Vermittelt wird ein umfangreicher Kanon alter und neuer, russischer und ausländischer Werke.

An die zeitgenössischen SchriftstellerInnen werden Forderungen nach ideologisch "richtiger", pädagogisch "wertvoller" und ästhetisch "anspruchsvoller" Literatur gerichtet. Im Vergleich dazu einige Grundzüge marktwirtschaftlich orientierter Literaturverhältnisse: kaum Zensur, Buchproduktion nach überwiegend marktwirtschaftlichen Kriterien; von bildungspolitischen Ausnahmen abgesehen, keine Subventionierungen.

Auch die Funktionen sind unterschiedlich ausgeprägt. Allgemeine Funktionen (nicht als Rangfolge): Welterkenntnis, Bildung/Erziehung, Unterhaltung. "Gute" Literatur kann immer mehrere Funktionen ausüben, aber eine dominiert.

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