Beziehungen zwischen realistischer und postmoderner Literatur

Für die folgende Untersuchung, die sich die Wechselbeziehungen zwischen als realistisch bzw. als postmodern bezeichneter Texte zum Thema setzt und diese anhand des Erzählers in narrativen Texten aufzeigen will, soll zunächst ein spezifisches Beschreibungsmodell erarbeitet werden. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen der spezifischen Art und Weise der Welterzeugung im Text und der Art der genutzten literarischen Verfahren.
Die Welt der realistischen Literatur ist (vereinfacht gesagt) ein in sich geschlossenes, strukturiertes Gebilde, das erkenn- und erklärbar ist. Diese Erkenntnisse sind wahr oder falsch (auch in Abhängigkeit von der historischen Situation oder Perspektive) und spezifischer Natur, d.h. die Literatur liefert keine "erkenntnistheoretisch wertlose Wiederholung" von Welt und sie Die realistische Literatur bildet - jeweils empirisch erfahrene- Wirklichkeit nach. Epische Texte sind charakterisiert durch die Kausalität der erzählten Ereignisse, von Raum und Zeit; psychologische Differenzierung der Figuren usw.
Da die realistische Literatur sich auf eine Realität bezieht, die sie sich erklären kann, ist sie imstande, auch historische Veränderungen zu erkennen und zu vermitteln. Indem neue Themen aufgreift, innovative Ideen zu verkörpern versucht, verändert sie sich. Postmoderne Literatur hingegen sieht sich am "Ende der Geschichte".
Welt wird nach wie vor erzeugt, aber jetzt existieren alle "Weisen der Welterzeugung" (Kunst, Wissenschaft, Politik) nebeneinander, die Erkenntnisse bilden keine Hierarchie mehr, sind wahr nur innerhalb ihres eigenen, begrenzten Beziehungsgefüges. Die realistische Welterzeugung erscheint als eine Möglichkeit unter vielen, ebenso begrenzt wie alle anderen.
Die postulierte Nivellierung von Hierarchien, Unterlaufen grundsätzlicher Dichotomien wie Hohes-Niederes, Wahrheit - Lüge, die Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz, die Anerkennung des "Anderen" usw. sind der große Verdienst all der geistigen Strömungen der Postmoderne, zugleich aber auch ihre größte Illusion.
Die russische Literatur und -kritik befindet sich inmitten offener und kontroverser Diskurse. Der Wegfall der Zensur, die Liberalisierung und Kommerzialisierung des Buchmarktes ergeben eine neue Situation für Literatur und Literaten. Sie unterscheidet sich jedoch deutlich von der in westlichen Länder. Wenn also nur ein geringer Teil der Texte als postmodern eingestuft werden kann, liegt dies nicht allein an der Dominanz des Realismus in der literarischen Tradition, sondern an seiner Entwicklungsfähigkeit.
Es soll im folgenden an der Veränderung der Erzählinstanz in narrativen Texten gezeigt werden, dass sich eine Annäherung zwischen realistischer und postmoderner Literatur vollzieht.
Als eine markante Tendenz erscheint dabei die Einführung des Autor-Erzählers. Ein Autor-Erzähler wird hier als ein Ich-Erzähler verstanden, der dem realen Autor ähnelt, ohne mit ihm identisch zu sein. Der Autor-Erzähler unterscheidet sich vom sogenannten auktorialen Erzähler, weil er eine Figur des Textes ist.
Er ist nicht der "beglaubigende" Erzähler der vor-realistischen Tradition, sondern ist eine Erscheinung der Moderne, da durch den Autor-Erzähler die Grenze zwischen Fiktionalität und Authentizität durchlässig wird.
Wenn der Autor-Erzähler die Hauptfigur des Textes ist, unterscheidet er sich von einem fiktiven Ich-Erzähler, weil er aufgrund bestimmter Signale (Namensgebung, bekannte biographische Details usw.) mit dem Autor identifiziert werden kann, auch wenn sich um keine vollständige Übereinstimmung handelt. Wesentlich ist, dass nicht mehr sicher zwischen "Fakt" und "Fiktion" entschieden werden kann und soll. [Anmerkungen, auf welche Texte dies zutrifft]
Während über sich selbst redende ErzählerInnen auch in der realistischen Literatur anzutreffen sind, sollte es von AutorIn dies eigentlich vermieden werden und es gibt lediglich fiktive, wenngleich autobiographisch angelegte Figuren.
Wenn der Autor-Erzähler als Nebenfigur auftritt, unterscheidet er sich von einem beobachtenden Ich-Erzähler durch seine hohe Kompetenz, die keiner Voraussetzungen bedarf. Dies hat auch aus einem anderen Grund Konsequenzen für die Charakteristik der Hauptfigur gur. Der Er-Erzähler als Erzähl-Medium hat uneingeschränkt Recht bei seiner Einschätzung.

Warum erlangt der Autor-Erzähler für die realistische Literatur an Bedeutung? Weil anerkannt wird, dass die in der fiktionalen Rede geäußerten Sätze nur einen Wahrheitsanspruch in Bezug auf die erzählte Welt, aber nicht in Bezug auf die "reale" Welt erheben können. Dabei haben die Behauptungen des Erzählers einen logisch privilegierten Status gegenüber den Behauptungen der Figuren Die Erzählerrede ist aber dann nicht privilegiert, wenn der Erzähler eine Figur des Textes ist oder er Aussagen macht, die über den Rahmen der erzählten Welt hinausgehen. (Martinez, 95. ff.) Ein Ich-Erzähler hat also keine Privilegien gegenüber den Figuren. Im Vergleich zu einer fiktiven Instanz verfügt der Autor-Erzähler über eine "natürliche" hohe Kompetenz und wird in der Regel als zuverlässiger Erzähler eingestuft. Zugleich erhöht sich durch das quasi-Authentische der Darstellung die Subjektivität, ist die Darstellung immer nur relativ wahr.

Durch die Verwendung des Autor-Erzählers wird die Relativität von Erkenntnis und Wahrheit anerkannt.

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