Russische Postmoderne

Was ist eigentlich die russische Postmoderne? Obwohl in den vergangenen Jahren ein Reihe von Arbeiten erschienen sind, kann die Frage wohl kaum eindeutig beantwortet werden. Zu unterschiedlich sind die Schreibweisen der AutorInnen, die von Wissenschaft und Kritik der literarischen Postmoderne zugerechnet werden.
Für die westliche Slavistik, die bereits in den achtziger Jahre die Diskussion führte, waren es neben Andrej Bitov vor allem Schriftsteller, die nur im Samizdat publizieren konnten bzw. emigriert waren. Als kleinster gemeinsamer Nenner diente die deutliche Abweichung von der Literatur des "sozialistischen Realismus", die Texte und ihre Verfasser aus der offiziellen Literatur ausschloss. Diese wurde dann nicht weiter differenziert ("der graue Hintergrund der sowjetischen Nachkriegsliteratur"), obwohl zumindest zwischen einer "Literatur des sozialistischen Realismus" und einer "realistische Literatur im Sozialismus" unterschieden werden sollte.
Die marxistische Literaturwissenschaft hatte seit den sechziger Jahren versucht, den "sozialistischen" Realismus als ein "historisch offenes ästhetisches System" zu etablieren, um einen möglichst großen Bereich der literarischen Produktion einschließen zu können. Auch deshalb scheint es vom heutigen Standpunkt angemessen, die Grenze nicht nur zwischen offizieller und nicht offizieller Literatur zu ziehen, sondern bei den gedruckt vorliegenden Texten zumindest zwischen offiziöser Literatur, die selbst eng gefassten Normen des "sozialistischen Realismus" entsprach, und "einfach realistischer" Literatur zu differenzieren, wobei noch jene Werke hinzu kommen, die eigentlich die gesteckten Grenzen überschritten, aus verschiedenen Gründen dennoch veröffentlicht wurden.
Die Tendenz in der Slavistik, bislang als realistisch geltende Texte zu postmodernen, und die Postmoderne zu einem Bestandteil der allgemeinen Entwicklung der sowjetischen Literatur seit den sechziger oder gar fünfziger Jahren zu erklären, erscheint als Versuch einer (meines Erachtens unnötigen) Rehabilitierung des "kritischen", "engagierten" Teils der offiziellen sowjetischen Literatur.
Die russische Literaturkritik benutzt den Begriff der Postmoderne (auch "Postmodernismus") erst seit etwa Mitte der neunziger Jahre. Er "ersetzt" eine Reihe zuvor benutzter Bezeichnungen in sich ein wie "Literatur der neuen Welle", "alternative Prosa", "ironische" oder "absurde" Avantgarde und anderes mehr. Mit der Einführung des Begriffes geht eine heftige Diskussion einher, die vor allem ein Diskurs um kulturelle Werte ist. Nach wie vor werden sehr unterschiedliche AutorInnen als "postmodern" bezeichnet. Ursache dafür ist meines Erachtens ihre "Andersartigkeit". Es gibt keinen Konsens über die Merkmale postmoderner Literatur und kann es aufgrund der Heterogenität des Diskurses wohl auch nicht geben, aber als Folie für ihre Beschreibung dient meines Erachtens die realistische Literatur.
Untersuchungen zu russischsprachigen literarischen Texten, die als postmodern bezeichnet werden, beziehen ihre Begriffe aus unterschiedlichen Systemen. Zum Beispiel benennt Mark Lipovedskij als Merkmale postmoderner Literatur eine hypertrophierte Dialogizität, Versionen von Ereignissen und deren Interpretationen, die Stimmen der Helden und die ihnen gegenüber gleichgültige Stimme des Autors. Raoul Eshelman spricht von der Modellierung eines beschränkten Bewußtseins des Subjektes, der Unentscheidbarkeit des Raumes...

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