Relevanz und Geschichte der Fragestellung zum Erzähler

Innerhalb der Erzähltheorie nimmt die Frage nach dem Erzähler einen wichtigen Platz ein. Ursache dafür ist die "Ursituation des Erzählens", wie Wolfgang Kayser schreibt:
"Die Technik der Erzählkunst leitet sich aus der Ursituation des Erzählens ab: daß ein Vorgängliches da ist, das erzählt wird, daß ein Publikum da ist, dem erzählt wird, und daß ein Erzähler da ist, der zwischen beiden gewissermaßen vermittelt." (Hervorhebungen von mir - B.J.) (W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk [1948]. Tübingen 201992, S. 201.)
Für Franz K. Stanzel, der mit seinen Arbeiten die Erzählforschung nachhaltig beeinflusst hat, wird durch den Erzähler die "Mittelbarkeit als Gattungsmerkmal der Erzählung" (F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens [1979]. Göttingen 51991, S. 15.) erzeugt.
Vielleicht aufgrund der Relevanz der Frage ist der Erzähler seit Jahrzehnten Gegenstand literaturwissenschaftlicher Diskussionen. Es gab viele, sehr verschiedenartige Versuche, dieses Problem zu bewältigen, und doch konstatiert Jochen Vogt in seinem 1990 erschienenen Buch "Aspekte erzählender Prosa": "Der Begriff 'Erzähler' aber rührt selbst an eine zentrale und nach wie vor umstrittene Frage der Erzählforschung. Konkurrierende theoretische Konzepte, unscharfe Begrifflichkeit und die häufige Vermischung analytischer und programmatischer Aussagen lassen sie verwickelt und eine klare Antwort fast unmöglich erscheinen". (J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Opladen 71990, S. 41 f.)
Ein Blick auf die Geschichte der theoretischen Diskussion um den Erzähler zeigt, dass die Frage erst dann relevant wird, wenn der Erzähler nicht mehr mit dem Autor, d.h. dem Urheber des Textes identifiziert werden kann.
Ursache dafür war der zunächst geforderte, aber dann nicht mehr als zeitgemäß empfundene Anspruch der "Glaubwürdigkeit" des Erzählten. Dabei gibt es entsprechend der spezifischen Entwicklung in den einzelnen Nationalliteraturen eigenständige Aspekte.
Für die deutsche Literatur forderte Friedrich Spielhagen in seinen nach 1860 erschienenen Abhandlungen die "Objektivität des Romans": der Dichter muss "völlig und ausnahmslos" hinter den handelnden Personen verschwinden, "so, daß er auch nicht die geringste Meinung für sich selbst äußern darf..." (F. Spielhagen, Die epische Poesie und Goethe, zit. nach: K. Friedemann, Die Rolle der Erzählers in der Epik. Leipzig 1910, S. 5.)
Gegen die Auffassungen von Spielhagen wandte sich Käte Friedemann in ihrer 1910 erschienenen Arbeit "Die Rolle des Erzählers in der Epik". Ihr gebührt der Verdienst, die Frage des Erzählers in der Epik zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtungen gemacht zu haben. Ihrer Meinung nach sei das, was Spielhagen fordere - nicht "geistige Objektivität", sondern "dramatische Illusion" (K. Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, S. 6.). Ausgehend von den Unterschieden zwischen der epischen und der dramatischen Gattung, zeigt sie, dass "im Epos im Gegensatz zum Drama ... die vergangenen Ereignisse durch ein gegenwärtiges Medium vermittelt werden" (Ebd., S. 22.) können. Wenn so eine "epische Illusion" entsteht, handelt es sich nicht um den "Schriftsteller Soundso ... - sondern 'der Erzähler ist der Bewertende, der Fühlende, der Schauende" (Ebd., S. 26.) (Hervorhebung durch F. K. - B. J.)
In den fünfziger Jahren fällte Käte Hamburger in ihrer "Logik der Dichtung" das rigorose Urteil: Es gibt keinen Erzähler. "Es gibt nur den erzählenden Dichter und sein Erzählen." (K. Hamburger, Die Logik der Dichtung. Stuttgart 21968, S.115.) Nur der Ich-Erzähler als Figur ist ein Erzähler.
Ihre Ansicht hat sich nicht durchsetzen können. Beeinflusst wurde die Forschung hiervon auf jeden Fall, ebenso wie von der "Rhetoric of Fiction" von Wayne C. Booth, die auch in deutscher Übersetzung erschien.
Die größte Wirkung hatten jedoch die Arbeiten von Stanzel, insbesondere dessen wiederholt aufgelegte "Theorie des Erzählens". Stanzel entwickelte die ebenso faszinierenden wie umstrittenen "typischen Erzählsituationen": die auktoriale, die personale und die Ich-Erzählsituation. Die gründlichste Kritik der Auffassungen von Stanzel, Booth u.a. findet sich in den "Erzählsystemen" von Jürgen H. Petersen. Mit großer Konsequenz entwickelt er seine "Poetik epischer Texte", die er in dem 1993 erschienen Band "Erzählsysteme" vorstellt. Auch innerhalb der Sprachwissenschaft bzw. der lingustisch orientierten Literaturwissenschaft gibt es verschiedene Versuche, sich dem Problem des Erzählers zu nähern, so von Ludomir Doležel. [...]

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