Die Kategorie der Erzählperspektive

Offensichtlich ist der wichtigste Begriff die Erzählperspektive ("point of view", "Blickpunkt").
So, wenn sich Vogt auf die drei Erzählsituationen von Stanzel stützt, ergänzt er ein neutrales Erzählen und kommt so zu drei Grundformen der Erzählperspektive (wie vor ihm Kayser und Friedeman) zurück. Durch die Einteilung in drei Erzählsituationen (auktorial, personal, neutral) und zwei Personen (Ich-Erzähler, Er/Sie-Erzähler) gelangt er zu sechs Formen.
Als aufschlussreich erweist sich auch ein Blick auf Arbeiten, die als Einführungen in die Literaturwissenschaft geschrieben wurden und in denen innerhalb der Ausführungen zur Epik in relativer Kürze auf den Erzähler eingegangen wird. So beschreibt Dieter Liewerscheidt im Kapitel "Erzählen" die Stanzelschen "Erzählsituationen" und benennt als deren Schwächen zunächst die Abtrennung/Eigenständigkeit der Ich-Erzählsituation. Des Weiteren betont er die Produktivität des Begriffes der Erzählperspektive, der in dem Schema der Erzählsituationen keinen adäquaten Ausdruck finden kann. (Vgl. D. Liewerscheidt, Schlüssel zur Literatur. München 1990, S. 119.)
Jürgen Schutte orientiert sich in dem Abschnitt "Strukturanalyse narrativer Texte: Erzählsituation" an den Auffassungen von Petersen, wobei er jedoch dessen Oberbegriff "Erzählsystem" durch die "Erzählsituation" Stanzels ersetzt, die er als "Gesamtheit jener Bedingungen", unter denen erzählt wird, versteht. (J. Schutte, Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart 1990, S. 132.)
Ganz ohne Stanzel existiert das Kapitel "Zur Struktur von Erzähltexten". Raimund Fellinger bezieht sich auf Friedman und dessen Auffassungen und stellt den Begriff der Perspektive (point of view) in den Mittelpunkt, wobei er drei verschiedene Perspektiven unterscheidet: 1. den Standpunkt außerhalb der Geschichte (der Erzähler kennt das Geschehen und auch das Innenleben der Figuren), 2. die Perspektive einer in die Geschichte involvierten Person, 3. den Standpunkt außerhalb des Geschehens ohne Darstellung des Innenlebens der Figuren. (Vgl. R. Fellinger, Zur Struktur von Erzähltexten, S. 347.)
Die Bedeutung des Begriffes der Erzählperspektive zeigt sich auch darin, dass sie in mehreren Lexika zur Literaturwissenschaft den Komplex des Erzählers in der Epik vertritt.
Im "Sachwörterbuch der Literatur" von Gero v. Wilpert ist dem Begriff "Perspektive" ein eigener Abschnitt gewidmet. Hier wird Perspektive unterschieden nach der Anordnung in Raum und Zeit, dem Wissen des Erzählers und dem Wechsel der Perspektive. Innerhalb der "raum-zeitlichen" Anordnung zwischen der Fern-Perspektive des unbeteiligten Beobachters und der Nah-Perspektive des unmittelbar Beteiligten (entspricht Petersens "Erzählstandort" ohne Möglichkeit des "Olymps") und in der "breitenmäßigen Staffelung" die auktoriale Perspektive des allwissenden Erzählers, das Teilwissen der Augenzeugen (Ich- oder Er-Erzähler) oder die personale Perspektive einer Figur (entspricht Grundformen der Erzählperspektive). Der Wechsel der Perspektive wird jedoch auf einzelne, konkrete Gattungen bezogen. (Vgl. G.v.Wilpert, Sachwörterbuch der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1989.). Auch im "Wörterbuch der Literaturwissenschaft" findet sich ein spezieller Artikel "Erzählperspektive", den Weimann verfasst hat und in dem er diese als Kombination des "fiktiven point of view" und nichtfiktiven Standpunktes des Schreibers definiert. (Vgl. R. Weimann, Erzählperspektive, S. 144f.)
Eine Hervorhebung der Erzählperspektive findet sich auch in der Arbeit von Schmeling, die dem mehrperspektivischen Erzählen gewidmet ist. Er sieht in der Erzählperspektive die spezifische Beziehung zwischen dem Aussagesubjekt eines narrativen Textes und der erzählten Geschichte verwirklicht. (Vgl. M. Schmeling, Perspektivenvielfalt bei Hoffmann und Tieck, S. 98.) Füger baut sein System auf der Erzählperspektive auf, die er als Kombination von Erzählerposition (Stellung des Erzählers innerhalb oder außerhalb des Geschehens) und Bewusstseinsstand (Art und Umfang der vorhandenen Informationen) betrachtet. (Vgl. W. Füger, Zur Tiefenstruktur des Narrativen, S. 263 f.)
In der "Poetik in Stichworten" von Ivo Braak wird neben dem Ich-Roman und dem Er-Roman noch ein Es-Roman unterschieden. Während der Er-Roman durch die "Anwesenheit eines auswählenden, wertenden, gelegentlich kommentierenden und auch den Leser unmittelbar ansprechenden Erzählers" gekennzeichnet ist, wird im Es-Roman "im Gegensatz zu den medialisierten Erzählungen ... dargestelltes Geschehen nur unmittelbar vorgeführt" (Vgl. I. Braak, Poetik in Stichworten. Unterägeri 1990, S. 265 f.).

Man kann also feststellen, dass über die "Graduierung" der Perspektive sogar relative Einigkeit besteht: sie erscheint als eine Skala, die von der Allwissenheit des Erzählers über ein Teilwissen und/oder Beobachten bis hin zum Teilwissen einer Figur reicht. Wie aber die Perspektive innerhalb eines Textes wechselt und welche Bedeutung das jeweilige Wissensniveau des Erzählers für den Text hat, wurde bislang nur unzureichend erklärt. Stanzels "Erzählsituationen" zum Beispiel bedeuten eine Verbindung verschiedener Perspektiven, können aber die Vielfalt der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten nicht ausschöpfen. Petersen geht einen anderen Weg. Er teilt das, was andere Wissenschaftler unter Perspektive zusammenfassen, in vier verschiedene Kategorien auf: Standort, Sichtweisen, Haltung und Verhalten des Erzählers. So wird aber auch Zusammengehöriges voneinander getrennt.

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