Das Kriterium der "Glaubwürdigkeit" (der "glaubwürdige" Erzähler-"Sprecher", der "persönliche" Erzähler)

Eine Ursache für die Schwierigkeit einer - allgemeine Gültigkeit beanspruchenden -Theorie zum Erzähler ist die Heterogenität der literarischen Texte, die den Untersuchungen als empirisches Material zugrundegelegt werden. Denn häufig wird der Genesis der Literatur, insbesondere der heterogenen historischen und nationalen Entwicklung der epischen Gattung keine Beachtung geschenkt.
Die permanenten Veränderungen von Autorintentionen, Textstrukturen oder Wahrnehmungsstrategien lassen jedoch meines Erachtens die Aufstellung allgemeingültiger Kategorien nicht zu.
Einige Arbeiten zur Literaturwissenschaft, die als Einführungen konzipiert sind, behandeln die Frage des Erzählers nur unterschwellig. Es zeigt sich, dass hier Beispiele aus der Literatur des 18. Jahrhunderts herangezogen werden. Dies verwundert nicht, denn die Frage nach dem Erzähler eines epischen Textes wird ja erst dann relevant, wenn der Erzähler nicht mehr mit dem Autor, d.h. dem Urheber des Textes identifiziert werden kann. Ursache dafür war der zunächst geforderte, aber dann nicht mehr als zeitgemäß empfundene Anspruch der "Glaubwürdigkeit" des Erzählten, die Notwendigkeit einer Legitimation des Erzählten.
Die Etablierung der epischen Gattung, insbesondere des Romans, erfolgt auch auf der Grundlage ihrer "Glaubwürdigkeit". Das wird im Roman des 18. Jahrhunderts durch zwei verschiedene Erzähler erreicht: erstens durch einen Erzähler, der den Leser immer wieder anspricht und durch das Geschehen führt und zweitens durch einen Ich-Erzähler, der als Figur den Kontakt herstellt und als Person für die Glaubwürdigkeit des Erzählten bürgt. Auch der Bildungs- und schließlich der Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts benötigt einen Erzähler, der über den Dingen steht (Außensicht) und zugleich in der Lage ist, sich in die Figuren hineinzuversetzen (Innensicht). Er muss jedoch nicht mehr unbedingt als "Sprecher" in Erscheinung treten. Er muss das Erzählte beglaubigen (Kayser).
Als die Überlegenheit dieses Erzählers kritisiert wird (Spielhagen), tritt der "persönliche" Erzähler zugunsten eines "unpersönlichen", quasi nicht nachweisbaren Erzählers zurück. Damit geht auch das Kriterium der Glaubwürdigkeit verloren.


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