Zur Notwendigkeit einer historischen Betrachtung

Es gibt einen - nicht immer bewusst geführten - Streit darüber, ob eine Theorie des Erzählers historische Veränderungen berücksichtigen soll oder nicht.
Petersen macht Hamburger, Stanzel und anderen zum Vorwurf, daß sie in ihren Arbeiten vorwiegend inhaltsanalytisch und historisch vorgehen (J.H. Petersen, Erzählsysteme, S. 176.), sie zugleich jedoch Erscheinungen der modernen Literatur in ihren Betrachtungen außer acht lassen. Er meint, daß die Form eines Kunstwerkes untersucht werden muß, und zwar die Form in ihrer Funktion, denn "durch die Aussagefunktion der Form unterscheidet sich das sprachliche Kunstwerk von einem der Information dienenden Text". (Vgl. ebd., S. 2.)
Jedoch hält er auch eine rein linguistisch orientierte bzw. strukturalistische Betrachtung für nicht geeignet, weil sie die Dinge vereinfacht und nicht in der Lage ist, der Spezifik des jeweiligen Textes Rechnung zu tragen.
Petersen bezeichnet seine "Erzählsysteme" als "Deskriptionspoetik narrativer Texte fiktionaler Art" (Ebd., S. 3.), d.h. er verzichtet bewusst auf eine historische Einordnung und die Festlegung von Normen.
Zweifellos beruht die rigorose Festlegung der Ich-Erzählsituation durch Stanzel u.a. darauf, daß dieser Texte der modernen Literatur nicht berücksichtigt hat. Liefert aber nicht die historische Einordnung und die Darstellung historischer Entwicklung des Erzählens wertvolle Rückschlüsse auf die Möglichkeiten des Erzählens?
Führt das Voraussetzen aller gegebenen Möglichkeiten zu einem System oder nur zu einer gewissen Beliebigkeit?
Bereits in den sechziger Jahren hatte Robert Weimann in seinem Aufsatz "Erzählerstandpunkt und point of view" die ahistorische Betrachtung bei Stanzel kritisiert. Er betrachtet hier wie auch in dem 1986 herausgegebenen Artikel im "Wörterbuch der Literaturwissenschaft" daher den "point of view" als den fiktiven Blickwinkel des Erzähler-Mediums und setzt davor "das die sozialen und ethischen Erzähleinstellungen bestimmende Verhältnis des Autor-Erzählers zu der Wirklichkeit als seinen Stoff und zum Publikum als seinen Leser" als Erzählerstandpunkt. Er unterscheidet zwischen den dem "historisch-historiographischen Erzählerstandpunkt und den damit (ironisch oder stilisiert) korrespondierenden Strategien des erzähltechnischen Point of view (allwissend, teilwissend, personale oder Ich-Erzählung)". (Vgl. R. Weimann, Erzählperspektive, in: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, Leipzig 1986, S. 145 f.)
Auf das Bestreben Weimanns, "nicht nur Inhalte, sondern auch formale Kategorien im realhistorischen Kontext zu fundieren, ihren geschichtlichen Wandel zu fassen" und so das "komplexe Phänomen Erzählstandort" zu begründen, verweist Vogt (Vgl. J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa, S. 90 f.) und geht selbst auf die unterschiedliche Entwicklung des Erzählers in den einzelnen Nationalliteraturen und seiner daraus erwachsenen höchst unterschiedlichen Begründung in der anglistischen im Vergleich etwa zur germanistischen Literaturwissenschaft ein. So lässt erstere die Differenz zwischen Autor und Erzähler oft außer acht, ist aber um so mehr um die für sie zentrale Kategorie des "point of view" bemüht. (Vgl. ebd., S. 43 f.)
Auch Schmeling verweist in seiner Analyse der Perspektivenvielfalt in der deutschen Literatur der Romantik darauf, "daß jede Perspektive das ihr gemäße historisch gewachsene typologische Umfeld aufweist..." Die eigentlich interessanten Fragen ergeben sich aus der "Doppelfunktion der Perspektive als technisches Mittel und als Weise des Verstehens. Die Wahl der Perspektive ist ein wesentlicher Indikator für die Existenz bzw. Infragestellung bestimmter weltanschaulicher, gesellschaftlicher oder ästhetischer Wertvorstellungen" In der Perspektive realisiert sich das "Verhältnis des Autors zur Wirklichkeit". (M. Schmeling, "Wir wollen keine Philister sein." Perspektivenvielfalt bei Hoffmann und Tieck, in: A. P. Frank, U. Mölk (Hg.): Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß. Berlin: Schmidt-Verlag 1991, S. 99. )

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