Der Autor-Erzähler

Ist der Autor eines literarischen Textes auch dessen Erzähler? Diese Frage kann grundsätzlich bejaht und ebenso grundsätzlich verneint werden, wobei beide Auffassungen begründbar sind und historisch und geographisch verschieden die eine oder andere Meinung dominierte.

Identität von Autor und Erzähler
Da der Autor sich alles (Figuren und Handlungen) ausdenkt oder/und auf eigene Erfahrungen, Erlebnisse usw. zurück greift, erzählt er selbst. Zumindest in den Passagen, die nicht den Figuren zugeordnet werden können, ist seine Stimme zu hören, zum Beispiel beim (berichtenden) Erzählen, Kommentaren usw.
Dietrich Weber erscheint es schlicht nicht einleuchtend, dass ein Autor, schon Figuren oder Handlungen erfindet, auch noch einen Erzähler erfinden müsse. Allerdings mache er in der Regel nicht auf sich aufmerksam, sondern verleugne sich und oft auch den Erzähler. (94)

Nichtidentität Autor-Erzähler
Mit seinen Thesen befindet er sich jedoch im Widerspruch zur Mehrheit der erzähltheoretischer Arbeiten, die von einer grundsätzliche Nicht-Identität von Autor und Erzähler ausgehen, da die "fiktionale Erzählung - anders als die faktuale Erzählung - per definitionem weder an einen historischen Sprecher noch an einen realen raum-zeitlichen Zusammenhang gebunden" sei. (Martinez/Scheffel, 68, Hervorhebung durch die Verfasser)
"Das erzählte Geschehen ist grundsätzlich kein vom Autor erlebtes Geschehen; und mehr noch: Es existiert nicht unabhängig vom Erzähltwerden, existiert nur im Erzähltwerden..." (Vogt, 24).
Dieser Auffassung zufolge wäre der Autor nur nichtfiktionalen, "halbliterarischen" Genres (Autobiographien/Memoiren, Briefen usw.) als Erzähler zugelassen.
Andererseits beziehen sich die Vertreter der "Autorerzählung" (Weber) ebenfalls auf fiktionale Texte, und zwar auf solche, die über einen mit großen Privilegien und hoher Kompetenz ausgestattete Erzähler verfügen, dessen Auffassungen aufgrund verschiedener Indizien bei der Analyse tatsächlich mit denen des Autors gleichgesetzt werden können oder ihnen zumindest nahe kommen. Also einen Erzähler, den Stanzel nicht umsonst als "auktorialen" Erzähler bezeichnet.
Eine Gleichsetzung von Autor und Erzähler kann nur dann nicht erfolgen, wenn letzterer zu den handelnder Personen des Textes gehört. Sie ist zumindest fragwürdig, wenn der Erzähler keine Figur ist, aber seine Wahrnehmung nicht über diese hinausreicht. Der unbestreitbare Vorteil einer Auffassung, die den Autor bei der Erzählanalyse "aus dem Spiel" lässt, ist der Schutz vor Angriffen, die mit der künstlerischen Gestaltung der Werke häufig nichts zu tun haben.

Autor-Erzähler-Skala

Zwischen einem Autor, der seine eigene Geschichte erzählt und einem Erzähler, der eine vom Autor erfundene Figur ist, liegen Abstufungen, die im folgenden anhand einer "Autor-Erzähler-Skala" dargestellt werden sollen.

1. Autor
Der Autor erzählt von sich selbst (seinen eigenen Erlebnissen, Erfahrungen usw.) und von anderen. Eine Fiktionalisierung ist nicht zu erkennen, auch keine (oder nur eine geringfügige) literarisierende Gestaltung. Realer und impliziter Autor sind nicht voneinander zu trennen.

2. Autor-Erzähler
Der Autor erzählt von anderen und von sich selbst. Einzelne Fakten, mitunter auch die Person des Autors, werden fiktionalisiert. Die Geschichte ist nicht "erzähllogisch" strukturiert.
Der reale Autor kann nicht mehr mit dem impliziten Autor gleichgesetzt werden, kommt ihm aber immer noch sehr nahe.

3. Der auktoriale Erzähler
Der Autor erzählt über den Erzähler eine fiktive Geschichte. Es ist anzunehmen, dass die Wertungen, die über den Erzähler transportiert werden, mit denen des Autors übereinstimmen oder diesem nahe kommen.

4. Der figurengebundene/personale Erzähler
Der Erzähler ist eine fiktive Figur, die selbst erzählt (Ich-Erzähler) oder über deren Perspektive erzählt wird (Er/Sie-Erzähler).
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