VORLESUNG 4

Zur zeitgenössischen südslavischen Literatur

Die südslavische Literatur der Nachkriegszeit, insbesondere aber die der siebziger und achtziger Jahre, hat eine Reihe interessanter Werke hervorgebracht. Auf einige wenige möchte ich hier etwas näher eingehen.

Bora Čosič (*1932)
Sein Buch "Uloga moje porodice u svetskoj revoluciji" ("Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution") erschien 1969 und wurde schnell zum "Geheimtipp", auch die Dramatisierung war sehr erfolgreich.
Schon der Titel verweist durch die Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit der beiden Begriffe "Familie" und "Weltrevolution" darauf, dass hier ein satirischer Angriff auf jegliche Art von Heldentum und Anbiederei an sich ändernde gesellschaftliche Verhältnisse unternommen wird. Zugleich wird die realistische Darstellung aufgegeben zugunsten einer modernen, extremen und damit kaum zu wiederholenden Art und Weise. Čosičerzählt aus der Perspektive eines Kindes und heranwachsenden Jugendlichen das Leben einer Familie in Belgrad zu Zeiten des Krieges, der faschistischen Besetzung, der Befreiung und der sich anschließenden Veränderungen. Auf welche Weise erzählt wird, möchte ich kurz demonstrieren. [Zitat]
Das war der Anfang, aber es geht immer so weiter. Diese ebenso hastig wie kunstvoll aneinander gereihten unzusammenhängenden Ereignisse und Gesprächsfetzen verdichten sich zu einer neuartigen, ungewöhnlichen Beschreibung des Alltags einer "Durchschnittsfamilie". Meisterhaft nimmt Čosičideologische Parolen und Klischees jeglicher Art auf die Schippe.

Aleksandar Tišma (1924-2003)
Sein Roman "Upotreba čoveka" (1980) ist charakteristisch für eine Tendenz in der serbischen Literatur seit dem Ende der sechziger Jahre, nämlich die Zeit des Krieges und der faschistischen Besetzung auf eine neue Weise zu ergründen.
Krieg und Befreiungsbewegung waren über viele Jahre hinweg ein beherrschendes Thema in der Literatur gewesen (auch in anderen Kunstarten - aus muss unzählige Partisanenfilme geben), wobei überwiegend das - männliche - Heldentum dargestellt worden war. In der jüngeren Literatur werden Klischees, insbesondere heroische, vermieden; es wird versucht, die unterschiedliche Reaktion der Menschen auf die Barbarei darzustellen, zu zeigen, dass es nicht nur bewusste Kämpfer gab, sondern weitaus mehr auch hilflose Menschen, die auf verschiedene Weise zu Opfern wurden. Tišma nutzt für seinen Roman als Handlungsort die sozial und national differenzierte Vojvodina und besonders deren Zentrum, die Stadt Novi Sad. Helden des Romans sind zwei junge Leute - im Grunde Altersgenossen von Tisma - die Halbjüdin Vera Kroner und der Serbe Sredoje Lazukic. Vera wird im KZ sterilisiert zu Prostitution gezwungen, Sredoje als Soldat wegen angeblicher staatsfeindlicher Tätigkeit verurteilt und ins Gefängnis geworfen. Beide überleben den Krieg und sind doch tot, d.h. sie können kein normales Leben mehr führen. Dabei endet der Roman nicht mit dem Tod der Helden. Darüber berichtet der Erzähler nur an einer Stelle, so dass offen bleibt, wann Vera Selbstmord begeht und sich Sredoje im tödlich verletzt, wobei nicht explizit gesagt wird, dass sie sterben, aber das Kapitel, in dem diese Dinge erzählt werden, beginnt aber mit dem Wort "Todesarten". Tišma erzählt nicht nur nicht chronologisch, sondern zum Teil unter rein thematischem Aspekt: ein Kapitel heißt "Wohnstätten, ein anderes "Konstitutionen". So entsteht wie im realistischen Gesellschaftsroman, aber auf eine andere Weise ein vielgestaltiges Bild der Gesellschaft. Denn um die Hauptfiguren ranken sich die Schicksale ihrer Freunde und Angehörigen, viele kommen um, es gibt keinen, der nicht äußere oder innere Verletzungen davonträgt.
Eine Kennzeichnen der modernen/zeitgenössischen südslavischen Literatur besteht darin, dass sie modern ist, d.h. verschiedene Experimente erkennen lässt. So gibt es bemerkenswerte Versuche, die der literarischen Postmoderne zugerechnet werden können. Übergreifendes Merkmal postmoderner Texte ist die These von der Welt als "Textwelt" und der damit verbundenen Universalisierung des Zitates. D.h., da in der bisherigen Literatur alles schon dagewesen ist, muss dieser eigentlich deprimierende Zustand produktiv gemacht werden. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen: ich möchte hier zwei Autoren anführen: Danilo Kišund Milorad Pavić.

Danilo Kiš(1935-1989)
wurde in Subotica geboren. Er war der Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin. Sein Vater kam 1944 in Auschwitz um, Kišentging dem Holocaust, weil er 1939 getauft wurde. Er lebte seit 1979 bis zu seinem Tod im Oktober 1989 überwiegend in Paris (sonst in Belgrad) und gilt als bedeutender europäischer Autor.
Bereits das literarische Debüt von Danilo Kiš, der Text "Mansarda" (1962), der das Leben eines jungen Mannes beschreibt, weist Züge postmoderner Literatur auf. Insbesondere können hier intertextuelle Bezüge genannt werden. Es gibt sowohl direkte Zitate (lateinische und griechische Sentenzen, nach denen sich der Erzähler richten will und die er zu diesem Zweck in die Wände der Dachkammer eingeritzt hat, und ein nicht als Zitat gekennzeichneter Ausschnitt aus dem "Zauberberg" von Thomas Mann), als auch das Spiel mit Mustern der Reise- und Abenteuerliteratur. Die räumliche und zeitliche Unbestimmtheit des Textes wird erst auf den letzten Seiten aufgelöst.
Die postmoderne Dimension des Textes besteht auch darin, dass der Erzähler vorgibt, nicht zu wissen, ob er die Dinge selbst erlebt oder sich diese nur ausdenkt. Er schreibt einen Roman, der dann als Selbstzitat im Text erscheint. Das Ganze ist eingebettet in die unklare Gedanken- und Gefühlswelt eines jungen Menschen, der jedoch am Schluss der Geschichte in die (profane, fiktive) Wirklichkeit zurückfindet. In einen Zusammenhang mit der Postmoderne wird Kišhauptsächlich wegen seines Textes "Grobnica za Borisa Davidovica" (1976) gebracht, nachdem er "wegen seiner ungekennzeichneten Zitatensprache und angeblicher Verfälschungen historiographischer Texte wie dokumentarischer Belege des Plagiats bezichtigt" worden war.
Das Buch trägt den Untertitel "Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte" und berichtet über die Schicksale von Menschen unterschiedlichster Nationalität, die sich für die Russische Revolution engagierten und später während der Stalinzeit liquidiert oder in den Tod getrieben wurden. Das Buch wurde aus zwei Gründen so kontrovers diskutiert, zum einen, weil hier Fiktives und Authentisches vermischt wurden - und das bei einem so hoch sensiblen Thema - vor allem aber, weil hier fiktives Materials mit der Manier authentischen gestaltet ist. In der modernen und postmodernen Literatur ein legitimes Verfahren - ich verweise hier nur auf Borges und seine Texte, zum Beispiel "Fiktionen", auf das Kišhier sicher auch reflektiert - aber bezogen auf die Darstellung einer unbewältigten Vergangenheit - noch nicht legitimiert.

Milorad Pavić (1926-2009)
Ein "Paradebeispiel" für postmoderne Literatur ist "Hazarski rečnik" (1984) von Milorad Pavić, was vielleicht nicht verwunderlich ist, da Pavić eigentlich Literaturwissenschaftler.
Als Ausgangspunkt wählte Pavić eine Begebenheit aus der Geschichte. Es geht um die Chasaren, einen historischen belegten Stamm, der zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer siedelte, dann aber zerfiel. Berichten historischer Quellen zufolge lud der Khan der Chasaren Vertreter des christlichen, islamischen und hebräischen Glaubens zusammen, um sich hernach zu einer dieser Religion zu bekennen. Jedoch ist nicht eindeutig belegt, zu welcher.
Aus diesen Ereignissen gestaltet Pavić keinen breit angelegten historischen Roman, sondern - wie der Titel schon sagt - ein Wörterbuch! Dabei gibt er vor, dieses sei der Nachdruck bzw. die Rekonstruktion eines im 17. Jahrhundert erschienenen und nur noch in Bruchstücken erhaltenen Lexikons.
Dieses enthält drei Bücher: das Rote, das Grüne und das Gelbe: die christlichen, jüdischen und islamischen Quellen zur "Chasarischen Frage". Innerhalb der einzelnen Teile werden in alphabetischer Reihenfolge wichtige Personen und Ereignisse aufgeführt - sowohl solche, die mit den Chasaren und dem Streit der Religionen unmittelbar zu tun haben, als auch solche, die die Geschichte des Wörterbuchs betreffen. Durch das parallele, aber nicht gleiche Herangehen in den drei Teilen entsteht eine Multiperspektive, die es ermöglicht, die Begebenheiten in einem immer wieder neuen Licht zu betrachten. Die zu erwartende Authentizität eines Wörterbuchs ist natürlich eine Vortäuschung, erfundene und überlieferte Dokumente sind untrennbar miteinander verbunden. Es gibt keine kausallogische Fabel mehr, raumzeitliche Bezüge sind aufgelöst, die Helden weitestgehend entpsychologisiert. Kann man ein solches Buch überhaupt lesen? Man kann, wenn man sich auf die veränderten Bedingungen einstellt und das Buch eben wie ein Lexikon liest. Dann wird man feststellen, dass der fehlende Zusammenhang nur vorgetäuscht ist. Der Leser muss herausfinden, wie das Buch zu lesen ist, damit daraus Geschichten entstehen. Übrigens wurde in der Folge der Rezeption von Pavić versucht, das "Srpski rečnik" von Karadžic auf ähnliche Weise zu lesen.

Dubravka Ugresić(*1949)
ist ebenfalls Literaturwissenschaftlerin. Für meine Begriffe eine äußerst begabte Erzählerin, weil es ihr gelingt, postmoderne Verfahren lesbar zu machen, sozusagen "postmoderne Unterhaltungsliteratur" zu schreiben. Sind die Texte von Kišund Pavić nicht ohne einige intellektuelle Anstrengung zu lesen, nutzt Dubravka Ugresićpostmoderne Verfahren, um sehr locker, ironisch und scheinbar unbeschwert ihre Geschichten zu schreiben, so auch in ihrem Buch "Stefica Cvek u raljama &382;ivota" (1981). Eine profane, alltägliche Situation - eine junge, alleinstehende Frau ist auf der Suche nach dem "Mann ihres Lebens" - wird zum Anlass zu zeigen, dass alles schon mal da gewesen ist, alles schon einmal beschrieben wurde. Die Erzählerin unterbricht immer wieder die vergeblichen Bemühungen ihrer Heldin, um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen, schließlich mischen sich noch ihre Mutter und die Nachbarinnen ein, um ihrerseits Vorschläge zu machen, wie die Geschichte zu schreiben wäre. Die postmoderne "Universalisierung des Zitats" zeigt sich in der Einbeziehung unterschiedlichster - aus Frauenzeitschriften stammender - Ratschläge für Kleidung, Haushalt, Schminken usw. Auch parodiert Dubravka Ugresićverschiedene Schreibweisen, insbesondere den des trivialen Frauenromans. Gleich zu Beginn des Buches schlägt sie vor, ihre Geschichte als Nähanleitung zu lesen, und versetzt ihren Text mit den entsprechenden Zeichen.
Das bedeutet, dass man den Text auch als Parodie auf die "ernste" Postmoderne lesen könnte 1989 erhielt Dubravka Ugresićals erste Frau den jugoslavischen Literaturpreis für ihren Roman "Forsirovanje romana-reke", übersetzt als "Der Goldene Finger": ebenfalls ein sehr ironischer Text, den man auch dann mit Vergnügen lesen kann, wenn man das Objekt des Spottes - die Zagreber Literaturszene - nicht kennt.