VORLESUNG 3

Die südslavische Literatur im 20. Jahrhundert

0. Historischer Hintergrund
Im Jahre 1918 wurde das Königreich der Serben, Kroaten und Slovenen gegründet. Es bestand aus den zwei bisher souveränen Staaten Serbien und Montenegro sowie den früher zur österreichisch-ungarischen Staatsmonarchie gehörenden Kroatien, Slovenien, der Vojvodina, Bosnien und der Hercegovina.
Bald kam es zu nationalen Spannungen, die 1929 durch die Königsdiktatur von Aleksandar I. vorläufig beendet wurden. Das Königreich bestand bis zum April 1941, als die deutsche Armee nach einem verheerenden Luftangriff auf Belgrad innerhalb weniger Wochen das gesamte Territorium eroberte. Eine Neuverteilung des Gebietes erfolgte nach den verschiedenen Interessensphären auf dem Balkan. Der "Unabhängige Staat Kroatien", das faschistische Ustaša-Regime wurde gegründet, die anderen Gebiete von den verschiedenen Mächten besetzt. Verschiedene Partisanenbewegungen nahmen den Kampf auf. Die erfolgreichste und Jozip Broz Tito befreite zusammen mit der Roten Armee im Oktober 1944 Belgrad. am 29.11. 1945 wurde die Föderative Republik Jugoslavien gegründet. Sie zerfiel 1991.

1. Die südslavischen Literaturen im europäischen Kontext
1.1. Allgemeine Tendenzen der Entwicklung der südslavischen Literaturen
Es gilt als charakteristisch für die so genannten "kleinen" Literaturen, dass sie nicht alle Tendenzen und Impulse der "großen" europäischen Kulturen aufnehmen können. So gab es im südslavischen Raum zwar auch eine realistische Literatur, aber sie erreichte nie die Dominanz und normbildende Funktion wie etwa der Realismus in der russischen Literatur. Hinzu kam, dass die europäischen literarischen Erscheinungen nationale geprägte Veränderung erfuhren. In der serbischen Literatur war dies zum Beispiel eine ausgeprägte "Folklorisierung". Zum Teil wurden sie in beschleunigter Weise durchlaufen und mit neueren Strömungen vermischt - Tendenzen, die auch für die zeitgenössische südslavische Literatur ihre Gültigkeit haben. Am Ende des 19. Jahrhunderts drang die Moderne so schnell in den Süden vor, dass sich die dortigen Literaturen seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sozusagen auf dem Höhepunkt der europäischen Literatur befanden.

1.2. Die Ausbildung und Entwicklung des Realismus in der serbischen und in der kroatischen Literatur
In den sechziger Jahren hatten die Serben im Allgemeinen die Literatursprache und die Rechtschreibung Karadžic angenommen. Damit im Zusammenhang wurde die Volksdichtung zum Ausgangspunkt und zu Quelle der Dichtung, vorherrschendes Genre war die Lyrik. Man spricht in diesem Zusammenhang von Romantik, aber es war eine von den serbischen Verhältnissen geprägte Romantik. Das bedeutete eine Verherrlichung des mittelalterlichen Serbiens, des Heldentums in Kampf gegen die Türken, des serbischen Bauertums. Aber nicht nur: auch die Liebe und Ritterlichkeit wurden besungen, es gab humoristische Dichtungen und solche für Kinder.
Der bekannteste Vertreter dieser Epoche ist Jovan Jovanović Zmaj (1833-1904). "Zmaj" - der Drachen - war Pseudonym und Spitzname. Obwohl er in seinem Leben alle damaligen Literaturzeitschriften mit seinen Versen füllte, erschienen seine Gesammelten Werke - immerhin 16 Bände - erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die Prosaliteratur entwickelte sich erst im Zusammenhang mit der Herausbildung des Realismus. Viele Schriftsteller vertraten die Auffassung, Literatur sei in erster Linie Mittel der Erziehung zur Moral und zur Bekämpfung von Unwissenheit und Aberglauben. Didaktische Prinzipien rangierten daher vor ästhetischen. Dazu kam der "Kampf um den Leser", denn es musste mit einer umfangreichen Übersetzungsliteratur konkurriert werden.
Es gab aber auch Autoren, die sich wenig um "Prinzipien" und den Publikumsgeschmack kümmerten. Viel gepriesen und geschmäht wird bis heute Jakov Ignjatović (1822-1889).
Wie in der serbischen Literatur, setzt sich auch in der kroatischen der Realismus durch. Als wichtigster Vertreter kann August Šenoa (1838-1891) bezeichnet werden, der in seinen Romanen vorwiegend Ereignisse des kroatischen Lebens aus dem 17. und 18. Jahrhunderts bearbeitete und später auch theoretische Arbeiten zum Realismus verfasste.
Der Erste Weltkrieg brachte eine auch für die Literatur relevante Teilung mit sich: die slovenische und kroatische Literaturen orientieren sich eher am deutschen Expressionismus, die serbische am französischen Surrealismus. Ich möchte jedoch nicht näher auf die einzelnen Strömungen näher eingehen, sondern
die Entwicklung der kroatischen Literatur am Beispiel des wohl wichtigsten Autors - Miroslav Krleža - verdeutlichen, dessen Werk eine Entwicklung von der Moderne über den Expressionismus bis hin zu einem "neuen" Realismus aufweist. Aber auch die Schriftsteller, die sich insgesamt dem Realismus verpflichtet fühlen, durchbrechen die tradierten Formen, was ich am Beispiel des wichtigsten serbischen Autors des 20. Jahrhunderts, Ivo AndriŪ, zeigen will.

2. Miroslav Krleža (1893-1981)
2.1. Leben und Werk von Miroslav Krleža
Krleža hat nicht nur einen hervorragenden Platz in der Geschichte der südslavischen Literatur, er hat mit seinem kunst- und kulturpolitischen Engagement entscheidend zur Anerkennung der Freiheit von Kunst und künstlerischem Schaffen beigetragen.
Krleža war der Sohn eines Polizeibeamten aus Zagreb. 1911 wurde er in die Militärakademie aufgenommen. Wie viele junge Leute seiner Zeit begeisterte er für die Idee einer Vereinigten Slavischen Staates. Er versuchte, serbischer Staatsbürger zu werden, um gegen die Türken kämpfen zu können, aber die Bürokratie verhinderte dies. Beim zweiten Versuch, an der serbischen Front zu kämpfen, geriet er in den Konflikt zwischen Bulgaren und Serben. Der Ernüchterung und Enttäuschung - auch die slavischen Staaten kämpften gegeneinander! - folgte - als er an den Kämpfen des Ersten Weltkrieges teilnahm - das Entsetzen. Die entmythisierende Darstellung des Krieges wurde so zum ersten großen Thema im Schaffen Krležas.
Sein Frühschaffen wird in drei Phasen unterteilt: 1. die modernistische Phase (1913-1917). Krleža erkennt die "mythische Verheißung" des Slaventums als "mythische Verblendung". Er beschließt, Schriftsteller zu werden und schreibt Gedichte und erste Dramen. 2. die expressionistische Phase (1917-1919): vor allem durch den Versuch gekennzeichnet, das Erlebnis des Kriege künstlerisch zu verarbeiten, dies geschieht in Anlehnung an den Expressionismus. Es entstehen Erzählungen, die später zu dem Zyklus "Hrvatski bog mars" ("Der kroatische Gott Mars") zusammengestellt werden.
3. Der Übergang zum Realismus (1920-1923) und 4. Die Arbeit als Redakteur (1923-1927). Der unbeugsamen Kritik an Krieg und Nationalismus wurde 1917 ergänzt durch die Begeisterung für die Oktoberrevolution. Wie viele Intellektuelle glaubte Krle_a an die Möglichkeit, eine völlig neue Gesellschaftsordnung errichten zu können. So gab er Zeitschriften heraus, die sich neben kulturellen und ästhetischen Problemen auch der politischen Propaganda widmen und deshalb auch verboten werden. Danach folgen Jahre, die als die fruchtbarsten in Krležas Schaffen gelten; seine wichtigsten Werke entstanden: Zunächst der Glembay-Zyklus, Dramen und narrative Texte über die Familie Glembay. Hier gestaltete Krleža den moralischen, sozialen und wirtschaftlichen Niedergang der aristokratisch-großbürgerlichen kroatischen Gesellschaft, die mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie ihre Existenzgrundlage verloren hatte. Weiterhin entstanden die Romane "Povratak Filipa Latinovizca", "Banket u Blitvii" und "Na rubu pameti", die dem Leben und dem Scheitern von Intellektuellen, insbesondere Künstlern nachgehen und in denen die Schreibweise eine Synthese realistischer, expressionistischer, essayistischer .... Verfahren bildet.
Krleža war ein Schriftsteller, der sich von Anfang an gegen jede orthodoxe, d.h. auch gegen die orthodox-marxistische Auffassung von Literatur auftrat. So galt er für die einen als gefährlicher kommunistischer Agitator, für die anderen als verräterischer Abweichler. Insbesondere polemisierte Krleža in den dreißiger Jahren gegen diejenigen Literaten, die die sowjetische Doktrin des "Sozialistischen Realismus" übernehmen wollten. Er setzte sich nachdrücklich für die Bewahrung der individuellen Dimension von der Kunst ein, wandte sich zugleich aber gegen eine Kunst des l'art pour l'art. Er betont die Verantwortung des Künstlers, aber ohne Dienstbarkeit für eine staatstragende Ideologie. Krleža verwies auf die Banalität und Seichtheit jener Werke, die als Belege für den "soz. Realismus" ausgewiesen werden. Gern wird von ihm der Satz zitiert: "Künstlerisch schaffen heißt nicht nur wollen, sondern auch können."
Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er zurückgezogen in Zagreb überstand, war er aktiv an den Versuchen einer kulturellen Erneuerung beteiligt. Einen kaum zu unterschätzenden Beitrag für die Entwicklung der modernen südslavischen Literatur leistete Krleža, als er 1952 auf dem Schriftstellerkongress in Ljubljana die Abkehr von der Doktrin des "sozialistischen Realismus" verkündete. Dies war möglich geworden, nachdem Jugoslavien 1948 politisch den Bruch mit der Sowjetunion vollzogen hatte. Krleža war dann viele Jahre Direktor des Jugoslavischen Lexigraphischen Institutes. Er war zeit seines Lebens die Autorität in der Literatur seines Landes Sein Ouevre ist dementsprechend umfangreich und vielgestaltig, Von den 27 Bänden der Werkausgabe enthalten 14 literarische und 13 publizistische und literaturkritische Texte. Hinzu kommen immerhin 5 Bände Tagebücher.

2.2. "Hrvatski bog Mars"
Ich hatte gesagt, dass die Teilnahme am Ersten Weltkrieg den Schriftsteller Krleža nachhaltig geprägt hat. So schrieb er eine Reihe von Erzählungen (1917/18), die später den Zyklus "Hrvatski bog Mars" bildeten. Schon der Titel verweist darauf, dass Krleža den Krieg in seiner konkreten Auswirkung auf den kroatischen Menschen zeigen wollte.
Die insgesamt sieben Texte können als Zyklus aufgefasst werden, da sie von einheitlichen Prinzipien geprägt sind: das Genre, die Figuren (Landwehrsoldaten), die Orte (Kaserne, Schlachtfeld, Lazarett), die Verwendung des auktorialen Erzählers und die Dominanz der erlebten Rede. Krleža verglich sich mit Zola, dass er nur das Negative zeigen wolle. In seinen Texten wird die offizielle Bewunderung für den "heldenhaften" Kampf und den Tod auf dem Schlachtfeld ad absurdum geführt. Dabei verwendet Krleža Verfahren des Expressivismus. [Zitat] So verweist die detaillierte Beschreibung des ausgestellten Fleisches in den Läden, was die einberufenen Bauern in der Stadt bewundern, auf die bevorstehende Zerstückelung und Vernichtung im Krieg. So sind die Schinkenkeulen in Krležas Kriegnovellistik Metaphern für die Stümpfe amputierter Beine. Krleža zeigt auch in Offizierskorps die österreichisch-ungarische Herrschaftsmaschinerie, die die Soldaten sinnlos in den Tod treibt, da gibt es keinen Unterschied zu den russischen Offizieren, die um ihrer Strategiespiele willen Menschen opfern. Der Kriegsgott Mars ist ein Götze, den die Machthaber und die katholische Kirche anbeten, der wahre Gott kann nur in den Menschen sein und ihnen eine andere Zukunft zeigen.

3. Ivo Andrić (1892-1975)
3.1. Leben und Werk von Ivo Andrić
Ivo Andrić ist sicher der bedeutendste serbische Schriftsteller und zugleich der einzige, der einen Nobelpreis für Literatur erhielt. Andrić wurde 1892 in Dolac in der Nähe von Travnik in Bosnien geboren; einen Teil seiner Kindheit verbrachte er in der Stadt Višegrad, die später zum Schauplatz seiner Werke werden sollte.
Er studierte Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Kraków und Graz.
Er unterstützte die Bestrebungen für die Gründung eines Staates der Südslawen und war von 1920 bis 1941 Diplomat für diesen Staat in verschiedenen Ländern. Ab 1939 war er Vertreter in Berlin. Zunächst verhaftet und interniert, wurde er 1941 nach Belgrad entlassen, wo er bis 1945 seine wichtigsten Werke verfasste: die Romane "Na drini čuprija", "Travnička hronika", "Gospodjica". Nach dem Krieg war er Parlamentsabgeordneter, Mitglied der Jugoslavischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. 1961 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

3.2. "Na drini čuprija"
Andrić begann sein Schaffen mit Gedichten, ging aber später vollständig zur Prosa über. In seinen Erzählungen schildert er das Leben in Bosnien in seiner ganzen Vielgestaltigkeit und Einmaligkeit: er beschreibt gleichermaßen Moslems, Serben, Kroaten, Juden, d.h. alle ansässigen Konfessionen und Nationalitäten, alle Schichten der Gesellschaft.
In dem Roman "Die Brücke über die Drina" wird die bosnische Stadt Višegrad zum Schauplatz weltbewegender Ereignisse, die aber auf die Brücke und die sich um sie ereignenden menschlichen Schicksale symbolisch konzentriert werden.
Der Roman beginnt mit dem Bau der Brücke im 16. Jahrhundert und endet mit ihrer teilweisen Zerstörung im Ersten Weltkrieg. Und doch ist die "Brücke" kein Zeit- oder Gesellschaftsroman im herkömmlichen Sinn aus zwei Gründen: Es gibt nur eine Entwicklung in der Zeit, der Ort ist immer der gleiche; und auch die Figuren sind "nur" durch ihre gleichzeitige Anwesenheit an einem gemeinsamen Ort miteinander verbunden. Durch die enorme Zeitdifferenz müssen immer wieder neue Figuren eingeführt werden.
Auch verflicht Andrić authentische, fiktive und phantastische Ereignisse miteinander. Er nutzt historische Dokumente ein, aber auch Legenden, die sich um die Entstehung der Brücke ranken. Diese werden entmythisiert und auf ihre realen, zum Teil grausamen Tatsachen zurückgeführt. So treten an die Stell von Reda, dem legendären und in Wirklichkeit namenlosen Erbauer die echten Bauherren, aus der Sage der Wasserfee, die forderte, zwei Kinder in die Brücke einzumauern, erwächst die Geschichte eines geistesgestörten Mädchens, das ihre Zwillinge tot zur Welt brachte und an der im Bau befindlichen Brücke verzweifelt nach den längst Begrabenen sucht.
Die einzelnen Kapitel beginnen oder enden häufig mit dem Bild der Brücke. Die Brücke ist der zentrale Ort des Geschehens. Sie verbindet die beiden Ufer der Drina, und damit zugleich Orient und Okzident. Über Jahrhunderte hinweg ist sie Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Serben und Moslems. Zugleich ist die Brücke auch Ort der Kommunikation, sie verbindet die Menschen miteinander.
Reinhard Lauer bezeichnet Andrić' Werk als historische und geistige Ortsbestimmungen des Menschen in einer Welt, die durch Jahrhunderten mit wechselnden Fronten geteilt war, geteilt zwischen zwei Welten. Dem pessimistischen Blick auf die Welt der zwei Welten hat Andri_ selbst das verbindende Symbol der Brücke entgegengestellt, das das Werk in vielfältigen Bedeutungen durchzieht.

3.3. "Kuča na osami"
Wegen der breiten Skala der Erzählverfahren wird Andrić als Repräsentant des Ausgleichs für eine ganze Etappe literarischer Entwicklung gewertet. Sein Schaffen zeigt in besonderem Maße, wie in der modernen südslavischem Literatur "Traditionalismus" und "Modernismus" eine fruchtbare Synthese miteinander eingehen. Als Beispiel soll hier auf den 1970 erschienenen Erzählband "Kuča na osami" verwiesen werden. Ausgangspunkt ist wiederum ein bestimmter Ort, hier das "Haus in der Einsamkeit", in dem der Erzähler einen Sommer verbringt und Erinnerungen aus seiner Kindheit aufschreibt. Soweit nichts Ungewöhnliches. Aber: die längst verstorbenen Gestalten aus seiner Vergangenheit klopfen an seine Tür und begehren Einlass. Sie bestehen darauf, die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen zu dürfen, die Kenntnisse des Erzählers zu ergänzen oder diesen zu widersprechen. So entsteht ein vielgestaltiges Bild häufig auch tragisch endender zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber auch Personen aus der bosnischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts betreten das Haus. Die Beschreibung ihres Lebens erhellt bruchstückhaft die historischen Bedingungen im Land, zugleich aber allgemeinmenschliche Eigenschaften und Leidenschaften.