VORLESUNG 2

Die südslavische Literatur von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

1. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis zur Revolution von 1848)

1.1. Historischer Hintergrund
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Bedingungen, unter denen die südslavischen Völker lebte, weiterhin kompliziert, die Entwicklung nationaler Literaturen erschwert. Die Völker lebten nicht in eigenen Staaten. Untereinander hatte sie kaum Kontakte. Außerdem fehlte eine zahlreichere gebildete Schicht. Jedoch bedeutete das 19. Jahrhundert den Beginn der nationalen Befreiung und eine stürmische Entwicklung der Literatur. Beispiele dafür sind in der ersten Hälfte das Wirken Vuk Karadžic sowie die Herausbildung des Illyrismus.

1.2. Die Bewegung des Illyrismus
Die Bewegung des Illyrismus bildete sich auf kroatischem Gebiet heraus, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Amtssprache war zunächst Latein, Verkehrssprache oft deutsch. Nach dem Tod von Joseph II versuchte der ungarische Adel, seine Sprache in Kroatien durchzusetzen. Dagegen wandten sich seit den dreißiger Jahren junge Leute. Sie orientierten sich dabei an den panslavischen Ideen von Jan Kollár, der von einer slavischen Sprache mit vier Dialekten ausging: dem russischen, polnischen, tschechischen und illyrischen. Den südslavischen Völker wurde also nicht nur eine gemeinsame Herkunft unterstellt - als Nachfahren der Illyrer, einer Gruppe von Stämmen, die ca. 4000 Jahre vor unserer Zeit auf dem Balkan siedelten, sondern auch eine gemeinsame Sprache.
Dieser Idee folgend, beschlossen die Dichter, einen Dialekt als Grundlage des Schreibens zu machen, nämlich den štokavischen Dialekt, in dem die Dubrovniker Dichter geschrieben hatten und für den auch Karadžic eintrat.
So erreichten sie eine Ausdehnung der Literatur über das engere Kroatien um Zagreb hinaus. Die Erfolge der Bewegung riefen die ungarische Seite auf den Plan, 1843 wurde die Bewegung verboten.
1850 kam es in Wien zu einem Treffen serbischer, kroatischer und slovenischer Persönlichkeiten, die sich ebenfalls für eine gemeinsame Literatursprache einsetzten.
Durch die Niederlage der Revolution und die erneute Besetzung durch Österreich wurde jede weitere Entwicklung unterdrückt.

1.3. Zum historischen Hintergrund der Entwicklung der serbischen Literatur
In den Aufständen von 1804 und 1815 wurde die türkische Macht gebrochen und ein serbisches Fürstentum errichtet. Damit wurde der Weg für eine stürmische kulturelle Entwicklung bereitet - zu verzeichnen sind: die Gründung von Schulen, von gelehrten und literarischen Gesellschaften, die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften, Eröffnung von Druckereien und Buchhandlungen usw.
All das geschah in erster Linie mit Hilfe der aus Österreich-Ungarn kommenden Serben. Somit blieb die orthodoxe serbische Kirche die wichtigste politische und kulturelle Kraft. Sie forderte u.a. die Beibehaltung der slaveno-serbischen Sprache, die aufgrund der damit verbundenen Traditionen auch allgemeine Anerkennung genoss. Und obwohl diese Sprache der ungebildeten Bevölkerung kaum verständlich war und die Mehrzahl der damals wirkenden Schriftsteller erkannten, dass die Literatursprache der Volkssprache angenähert werden müsste, gelang der Durchbruch erst bei jenen Autoren, die nicht mehr durch geistige Bindungen von der Kirche abhängig waren.

1.4. Vuk Stepanovic Karadžic (1787-1869)
gilt als Schöpfer der modernen serbischen Literatursprache, als Reformator der der serbischen Rechtschreibung, als Sammler und Kenner der serbischen Volksdichter, Ethnograph, Historiker und Literaturkritiker. K. war der Sohn eines Bauern. Am ersten serbischen Aufstand nahm er als Feldschreiber teil, musste dann nach Wien fliehen, wo er sich bildete. Aufgrund seiner Herkunft hatte er sich ein spontanes Sprachgefühl bewahrt und war nicht durch slaveno-serbische Lektüre, ungarische und deutsche Einflüsse verunsichert. Bereits 1814 veröffentliche er sein erstes Buch "Mala prostonarodna slavenosrpskapesnarica" - eine Sammlung von Volksliedern, die er aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hatte.
Später begann er, systematisch Volkslieder zu sammeln, sie umfassten schließlich 6 umfangreiche Bände. Er veröffentlichte auch Volkserzählungen, Sprichwörter und Rätsel. Ihm ist es zu verdanken, dass die serbische Volksdichtung nach Europa gelangte. Er übersetzte auch das Neue Testament ins Serbische und gab es ohne Billigung der Kirche heraus.
Aber darin erschöpfte sich sein Wirken nicht. Er gab eine Grammatik heraus und 1852 das umfangreiche "Srpski recnik", vereinfachte die Rechtschreibung, indem er überflüssige Zeichen wegließ. Mit seiner Arbeit brachte er nicht nur die Kirche, sondern auch viele gebildete Serben gegen sich auf. Seine allgemeine Anerkennung kam spät.
Allerdings konnte sich die ijekavische Mundart, in der er schrieb, nicht gegen das ekavische durchsetzen. Jedoch war sein Wirken wichtig für die Annäherung der südslavischen Völker.

1.4. Die Entwicklung der slovenischen Literatur und France Prešeren (1800-1949)
France Prešeren gilt als der größte slovenischer Dichter überhaupt. Er ist für die Slovenen das, was für die Russen Puškin oder die Polen Mieckiewicz ist.
Er war der erste slovenische Dichter, der mehr war als ein provinzieller Didakt. Er war für die Slovenen deshalb so wichtig, weil er ihnen durch seine Dichtung eine nationale Sprache schuf, zu einem Zeitpunkt, als das Slovenische noch keine Amtsprache und nur zum Teil Verkehrsprache war.
Prešeren befand sich somit in einer sehr schwierigen Situation. Er war einerseits dringend notwendig für die Gemeinschaft, andererseits aber völlig überflüssig. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Seine Dichtung entsprach nur zum Teil den Normen des nationalen Moralismus und dem Weltverständnis der gebildeten Slovenen. Hinzu, dass auch seine Lebensweise bürgerlichen Normen nicht entsprach. So führte er eine nicht sanktionierte Ehe, seine Kinder blieben unehelich. Sein Leben endete frühzeitig auch infolge übermäßigen Alkoholgenusses. Andererseits konnte er auch nicht von seiner Dichtkunst leben, und in der Ausübung seines eigentlichen Berufes als Anwalt wurde er über lange Jahre gehindert. Anerkennung fand Prešeren erst nach seinem Tod - ein Forscher bezeichnet dies als Mythisierung und hält es lediglich "für den etwas freundlicheren Aspekt eines noch immer unmenschlichen Dichterschicksals in der Umarmung der Volksgemeinschaft". (Paternu) Das gilt heute in besonderem Maße. Ein Ausdruck dafür: sein Gedicht "Zdravlija" ("Trinklied") wurde zur Hymne Sloveniens erklärt.
Was macht das Besondere seiner Dichtung aus? Ein Grund war wohl die meisterhafte Beherrschung verschiedener Stile - vom Barock bis zur Romantik - bei gleichzeitig sehr individueller Aussage.
Als Beispiel will ich auf seinen "Sonettenkranz" verweisen: "Sonentni venec" erschienen 1834. Er gilt als diejenige Dichtung, in der seine gestalterische und insbesondere architektonische Meisterschaft besonders zur Geltung kommt und die vier Hauptthemen seiner Dichtung ? menschliches Schicksal, Liebe, Nation, Dichtung ? besonders miteinander verbunden sind, wobei allerdings die existenzielle Problematik im Hintergrund verbleibt.
Die Anregungen für dieses Werk kamen von verschiedenen Seiten. Prešeren begegnete seiner großen, für ihn unerreichbar bleibenden Liebe, der schönen Kaufmannstochter Julija. Diese Liebe aus der Distanz eröffnete verschiedene Stilmöglichkeiten, so eben die Form des Sonetts, die er wohl der fernen Julia, nicht aber der mit ihm lebenden Ana und ihren unehelichen Kindern widmen konnte ? was er auch nie versucht hat. (Ein Grund dafür, dass seine Lyrik keine sofortige Anerkennung fand, war die spezielle Bedeutung der Erotik in seiner Dichtung. Liebesbeziehungen sind für den Dichter nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern Ausgangspunkt und Brennpunkt menschlicher Bestrebungen.)
Prešeren orientierte sich bei seinem "Sonettenkranz" an der Schule des deutschen romantischen Dichters Schlegels, der die Sonettenform zum eigentlichen Prüfstein der Dichtersprache erklärt hatte. Prešeren ging sogar noch einen Schritt weiter und orientierte sich an der Sonettenkranzform der Spätrenaissance / des Marienismus: Fünfzehn Sonette werden zu einem Kranz verbunden, und zwar so, dass aus dem letzten Sonett, der "Magistrale", die Anfangs? und Schlusszeilen der vorangegangenen vierzehn Sonette hervorgehen, und zwar so, dass das erste Sonett mit dem ersten Vers der Magistrale beginnt und dem zweiten endet, das zweite Sonett mit diesem beginnt, mit dem dritten Vers der Magistrale endet und so fort. Es spricht nun sicher für die Meisterschaft des Dichters, wenn es ihm gelungen ist, dieses komplizierte Spiel mit einer ernsten persönlichen Aussage zu verbinden, und zwar im Geiste der Romantik. Die Grundidee lautet: Julias Liebeszuneigung für das Innere des Dichters erlösen und seine Inspiration freisetzen; der neue Zustand würde eine große Dichtung hervorbringen, die die Nation kultivieren und aus ihrer Zurückgebliebenheit herausführen könnte. Die wichtigsten Bereiche in Prešerens Leben sollten beruhigt und harmonisiert werden, was der abgerundeten und äußerst geordneten Form des Sonettenkranzes entspricht.
Heute wissen nur noch wenige Slovenen, dass Prešeren auch ein deutscher Dichter war, und im deutschen Sprachraum ist diese Tatsache fast völlig unbekannt. Sein Oeuvre umfasst jedoch insgesamt 34 deutschsprachige Texte, immerhin ein Fünftel des Gesamtwerkes. Es handelt sich dabei um einerseits um die Übertragung eigener Gedichte ins Deutsche, andererseits um ursprünglich in deutscher Sprache verfasster Gedichte. Natürlich wollte Prešeren ein slovenischer Dichter sein, aber um seinen Wirkungskreis optimal zu gestalten, musste er der relativ großen deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe verständlich sein.
Literaturzeitschriften druckten Gedichte oft auch in beiden Sprachen gleichzeitig ab ? so geschehen bei Prešerens erstem veröffentlichtem Gedicht, das 1827 erschien, und für das er eigenhändig die Nachdichtung lieferte. Diese Nachdichtungen erscheinen heute bestenfalls als Routinearbeiten, während denen ursprünglich in deutscher Sprache verfassten Gedichten eine hohe ästhetische Intensität zugebilligt wird. Der engen Verbindung zur deutschen Sprache ist es zu verdanken, dass nach dem frühen Tod von Prešeren verschiedene Deutsche, die um kulturelle Beziehungen zu Slovenien bemüht waren, auf diesen Dichter aufmerksam wurden und sich um Übersetzungen bemühten. So konnte seine Lyrik bereits Ende des 19. Jahrhunderts dem deutschen Publikum fast vollständig vorgestellt werden. Inzwischen gibt es auch neuere Übertragungen, die den Lesegewohnheiten des heutigen Publikums entsprechen.

2. Petar Petrovic Njegoš (1813-1851) und der "Bergkranz"

2.1. Person und historischer Hintergrund
Montenegro war unter dem Namen Zeta bis ins 15. Jahrhundert ein selbständiger Staat gewesen, bis auch er ins Osmanische Reich geriet. Da es sich aber um ein wirtschaftlich wenig ergiebiges, schwer zugängliches Gebiet handelte, konnten sich die dort lebenden Stämme eine gewisse Autonomie bewahren. Sie lebten unter sich in Fehde und traten nur in Zeiten der Gefahr gegen einen gemeinsamen Feind an. Seit dem 18. Jahrhundert gab es einen Bischof, der auch über weltliche Macht verfügte.
Der ursprünglicher Name von Petar Petrovic Njegošwar Rade Petrovic. Er stammte aus dem montenegrinischen Dorf Njegoši aus der Familie, in der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die Bischofswürde vererbt wurde. Als Mönch nahm er den Namen seines Onkels und Vorgängers im Amt Petar an. 1833 wurde er in Petersburg zum Bischof geweiht. Sein Leben war von dem Versuch geprägt, in Montenegro trotz der ständigen Bedrohung von außen und gegen den Widerstand der Stammesführer ein modernes Staatswesen zu verwandeln, was ihm gewisse Erfolge, viele Niederlagen und den Tod an Tuberkulose im Alter von 38 Jahren einbrachte.

2.2. Der Dichter Njegoš
Njegoš zählt wie Karadžic zu den Autodidakten, da ihm eine umfassende Schulbildung versagt blieb. Er war jedoch immer bestrebt, seine historischen und literarischen Kenntnisse zu erweitern. Er war begeistert von den russischen Dichtern Puškin und Deržavin und übersetzte Teile des Igorliedes. Er interessierte sich auch für die serbische klassizistische Dichtung. Er gab nach dem Vorblid von Karadžic montenegrinische Heldenlieder heraus, verfasste in jungen Jahren auch selbst welche.
Er blieb jedoch nicht dabei stehen. Neben zahlreichen Gedichten im Volksliedcharakter, Gelegenheits- und Widmungsgedichten verfasste er ein Werk, das bislang als eines der bedeutendsten Werke der südslavischen Literatur, den "Gorskij vijenac" ("Bergkranz").
Bevor ich auf diesen Text näher eingehe, möchte ich auf Njegoš' religiös-epische Dichtung "Luca mikrokozma" ("Der Strahl des Mikrokosmos") verweisen, die Njegoš 1846 in sehr kurzer Zeit niederschrieb und die mehr als zweitausend Verse umfasst. Sie gilt als das persönlichste Werk des Dichters. Es geht um nichts Geringeres als die Frage nach dem Dasein des Menschen auf der Erde, seine Bestimmung. Petar Petrovic Njegoš sieht das Erdendasein des Menschen in seinem präxistentiellen Sündenfall begründet. Als Luzifer versucht hatte, die Allmacht Gottes zu brechen und den Urzustand, das Chaos im All, wiederherzustellen, hatte sich Adam an diesem Aufstand beteiligt und war zu Strafe auf die Erde verbannt und der Erinnerung an das Paradies beraubt worden. Das lyrische Ich glaubt nun, dass die menschliche Seele in der Lage ist, sich diese Erinnerung zurückzuholen.
Die im Text zum Ausdruck kommenden Vorstellungen gehen über die kirchliche Lehre hinaus. Es gibt Berührungspunkte mit verschiedenen Mythen, aber keine direkte Quelle. Im Kampf Luzifers um die um die uneingeschränkte Vielherrschaft im All könnte auf die Kämpfe der montenegrinischen Stämme gegen die neuzuschaffende staatliche Ordnung anspielen, ein künstlerischverfremdetes, mythisches Bild für die grausame Realität.

2.3. "Gorskij vijenac"
Der Titel steht eigentlich für "Ruhmeskranz der Schwarzen Berge" bzw. "Ruhmeskranz Montenegros". "Der Bergkranz" hat sich jedoch als deutscher Titel eingebürgert.
Vom Genre her ist der Text schwer, mit tradierten Bezeichnungen nicht zu bestimmen. Es handelt sich um gebundene Sprache, um den für die serbische/kroatische Lyrik und Volkspoesie charakteristischen Zehnsilber ohne Reime, aber mit einer obligaten Zäsur nach der vierten Silbe. Von der äußeren Struktur her ist der Text wie ein Drama aufgebaut: es gibt ein Personenverzeichnis, Monologe und Dialoge. Zwar existiert keine Akt- und Szeneneinteilung, aber doch ist eine zeitliche Gliederung in drei Abschnitte vorhanden, die zeitlich mit Kirchenfesten zusammenfallen. "Versammlung am kleinen Liebrauentag" (1), "Weihnachtsabend" (2) "Neujahr" (3). Um darlegen zu können, warum es sich doch nicht um ein Drama handelt, muss ich kurz über den historischen Hintergrund des Stückes und die Veränderungen, die Njegoš vornahm, sprechen. Den historischen Hintergrund für das Werk bildet die sogenannte Türkenausrottung, als auf Befehl des Bischofs Danilo viele zum Islam übergetretene Montenegriner getötet wurden. Die Quellen lassen keine eindeutige Aussage darüber zu, ob es diese Bluttat am Beginn des 18. Jahrhunderts tatsächlich gegeben hat. Bei Nejgoš ist dies eine Tatsache. Im Gegensatz zur Überlieferung lässt es jedoch nicht den Bischof Danilo den Befehl aussprechen, sondern dieser wird von den Stammesführern dazu gedrängt. Der Figur des Bischofs hat Njegoš offenbar autobiographische Züge verliehen. Der Bischof Danilo reflektiert über das traurige Schicksal seines Volkes und verwünscht sein Los, vor einer blutigen Lösung schreckt er aus ethischen Gründen und politischer Vorsicht zurück. Die von ihm initiierte Vorschlag zur gütigen Beilegung des Konfliktes scheitert. Die zum Islam übertretenen Montenegriner sind nicht bereit, ihre damit verbundene Macht aufzugeben und zum Christentum zurückzukehren. Dieses "Streitgespräch der Religionen" lässt die verschiedenen Macht und Kulturideale aufeinandertreffen. Ein Miteinander erscheint als unmöglich.
Als Drama erscheint der Text aufgrund der Monologe des Bischofs, seiner Auseinandersetzung mit den Stammesführer, des Streites zwischen Christen und Moslems. Unterbrochen wird das Ganze jedoch immer wieder von "Szenen aus dem Volksleben" - zum Beispiel dem Weissagen aus Schulterblättern, einem Hochzeitszug mit Hochzeitsgesängen, einem Trauerzug mit Totenklagen, einer Hexe. Dies hat mit der eigentlichen Handlung nur mittelbar zu tun, zeigt aber die Lebensverhältnisse im historischen Montenegro.
Njegoš verband also die Elemente des Epos mit denen des Dramas. Er verbindet eine breite, umfassende epische Darstellung mit der "Objektivität" der dramatischen Darstellung. Das Entscheidende ist nämlich, dass er auf einen epischen Erzähler verzichtet, d.h. er verzichtet auf die Einschätzung der Ereignisse durch eine übergeordnete Instanz. Alle Aussagen sind die Aussagen von einzelnen Figuren bzw. des Volkes, das im gemeinsamen Gesang zur Stimme gelangt.
Durch das historisch nicht belegte Streitgespräch zwischen den Vertretern der beiden Religionen wird die "Türkenausrottung" von dem Vorwurf befreit, es handele sich nur um die Befriedigung von Hass und Rache. Jedoch bleibt die gewaltsame Lösung für die Figur des Danilo - der historische Bischof hatte sie selbst initiiert - in höchstem Maße fragwürdig. In einem Monolog spricht er von "zwei schrecklichen Symbolen", die nur Leid bringen.
Hier spricht die Figur des Danilo Worte aus, die als Njegoš' Überlegungen betrachtet werden können. [Zitat] In der Natur gilt das Recht das Stärkeren. Der Mensch als sittliches Wesen aber hat die Pflicht, gegen dieses Recht anzukämpfen. Die zum Islam übergetretenen Montenegriner haben nicht nur ihre Ahnen verraten, sondern auch gegen das sittliche Gesetz verstoßen, weil sie den Glauben um der Macht und der Stärke willen angenommen haben. Aus diesem Gedanken leitet Njegoš die Berechtigung des Kampfes "mit allen Mitteln" her. Jedoch nicht am Schluss des Textes, als von verschiedenen Boten über das Niedermetzeln der "Türken" gesprochen wird. Hier werden keine Debatten mehr geführt.