In der Gruppe der mehr erzählenden Texte verfügt ein Großteil der Texte über einen Ich-Erzähler, der bei der entsprechenden Lesererwartung mit dem Autor Šalamov identifiziert wird. Dadurch wird das Genre Erinnerung oder Memoiren aufgerufen. In frühen Texten hat Šalamov diesen Erzählern aber fiktive Namen gegeben (Krist, Andreev u.a.), sie mitunter mit fiktiven Details ausgestattet.
Als entscheidend erweist sich jedoch nicht die fingierte Fiktionalität des Ich-Erzählers und auch nicht dessen Status als Akteur oder Beobachter. Denn es gibt keine wesentliche Unterschiede in der Erzählweise zwischen Texten, in denen der Ich-Erzähler selbst Hauptfigur ist und über einen Abschnitt seines Lebens berichtet ("SguŠčennoe moloko" [1956], "Sentencija" [1965], "Zagovor juristov" [1962], "Timfoznyj kvarantin" [1959] und andere) und solchen, in denen eine andere Gestalt, zumeist ein Mithäftling, im Mittelpunkt steht (zum Beispiel "Apostol Pavel" [1954], "Bogdanov" [1970], "Bukinist" [1965], "TiŠina" [1966]).
Die Erzählweise ändert sich aber, wenn es sich um Texte mit einem Er-Erzähler handelt. Dabei gibt es ebenfalls Texte mit autobiographischer Grundlage ("Plotniki" [1954], "Artist lopaty" [1964], "Počerk" [1965],) als auch Geschichten über andere Häftlinge ("Noč'ju" [1954], "Odinočnyj zamer" [1955], "Šokovaja terapija" [1956], "Poslednij boj majora Pugačeva" [1959], "Bol'" [1967], ). Unabhängig davon und obwohl der Stoff der gleiche ist wie in der ersten Textgruppe, führt die Er-Erzählung zu einer anderen Struktur. Wesentlich ist neben einer konzentrierten, erzähllogischen Handlung die Innensicht der handelnden Figuren.
Es scheint daher möglich, die Texte dem Genre der Kurzgeschichte zuzuordnen. Die Kurzgeschichte (Bei den Merkmalen der Kurzgeschichte beziehe ich mich auf L. Marx, Die deutsche Kurzgeschichte, Stuttgart 1985.) als Lehnübersetzung der amerikanischen short story ist enger gefasst als jener Begriff und meint tatsächlich kurze Geschichten. Obwohl es im Russischen dafür keinen adäquaten Ausdruck gibt und wirklich kurze Erzählformen eher die Ausnahme bilden, entspricht gerade diese Form Šalamovs Bestrebungen. Šalamov bezeichnet den Lakonismus als wichtigstes künstlerisches Prinzip und als Hauptkompositionsprinzip der Kurzgeschichte gilt die Verkürzung und Verknappung: die genannten Texte umfassen zumeist nicht mehr als 1-3 Druckseiten.
Kurzgeschichten sind gewöhnlich im Alltag eines Menschen angesiedelt, wobei im Mittelpunkt der Handlung ein ungewöhnliches Ereignis steht. Šalamov, der dreizehn Jahre auf Kolyma verbringen musste, zeigt eben den Alltag des Lagers, wobei dieser Ereignisse hervorbringen kann, die den Tod bedeuten, die aber möglicherweise auch Leben retten.
Der Geschichte "Odinočnyj zamer" liegt eine Tatsache zugrunde, die Šalamov in "Kak eto nacalos'" so beschreibt:
("Die letzte und größte ‚Rubrik', weshalb viele Menschen erschossen wurden: ‚wegen Nichterfüllung der Norm'. Wegen dieses Lagerverbrechens wurden ganze Brigaden erschossen.. Die Nichterfüllung des staatlichen Planes war ein konterrevolutionäres Verbrechen.")
[30]
In Text werden die letzten zwei Tage des Häftlings Dugaev geschildert. Um seine Arbeitsfähigkeit zu testen, bekommt er eine Einzelnorm, die er wegen seiner fortgeschrittenen körperlichen Schwäche nur zu 25% erfüllt. Daraufhin ergeht der Befehl, ihn zu erschießen.
Die emotionale Wirkung, die aufgrund der erzählten Ereignisse vom Text ausgeht, wird durch die Gestaltung der Figur des Dugaev noch verstärkt. Diese ist einerseits sehr allgemein gehalten - der Leser erfährt nur das Alter (23 Jahre) - andererseits werden seine Gedanken und Gefühle geschildert, die eine Identifikation des Lesers mit der Figur ermöglichen.
[31]
Hinzu kommt der - bei Nichtwissen des oben genannten Kontextes - überraschende Schluss, wobei nur indirekt auf die Erschießung verwiesen wird.
("...und in der Nacht zu übermorgen führten ihn die Soldaten... Als Dugajew begriff, wie ihm geschah, bedauerte er, daß er umsonst gearbeitet und sich umsonst abgequält hatte an diesem seinem letzten [heutigen] Tag.")
[32]
Ungewöhnlich ist hier auch die Zeitrechnung im Text, denn der heutige Tag ist eigentlich nicht der letzte Tag im Leben Dugaevs (wie es irrtümlich übersetzt wurde), sondern der, an dem er die Einzelnorm bekam.
In "Noč'ju" machen sich zwei Häftlinge in der Dunkelheit auf den Weg, um irgendwo am Rande des Lagers Steine wegzuräumen. Erst nach der Hälfte des Texte stellt sich heraus, dass sie ein Grab öffnen, um dem Toten die Unterwäsche auszuziehen. Diese ist noch gut genug, um sie gegen Brot und Tabak eintauschen zu können.
Auch hier wird die Wirkung durch die Innensicht der Figuren und die überraschend-schokierende Auflösung der zunächst unklaren Handlung verstärkt.
Eine Wendung gibt es auch in der Erzählung "Počerk". Der Häftling Krist bekommt wegen seiner guten Handschrift Arbeit bei einem Untersuchungsführer. Er muss Listen schreiben. Erst viel später wird ihm klar, dass er Erschießungslisten geschrieben hat, und er erkennt, dass der Untersuchungsführer seine Akte verbrannt und ihm damit das Leben gerettet hat.
Eine weitere Verknappung der Erzählhandlung (maximal eine Druckseite) erfolgt in Kurzgeschichten mit quasi-anekdotischem Charakter, in der auf diese Weise die Perversion des Lagers auf die Spitze getrieben wird. So, wenn ein Pferd wird wegen "schlechter Arbeit" ins Lagergefängnis eingewiesen werden soll ("Kaligula" [1962]), oder in einer als Dokument wiedergegebenen Meldung sich ein Ingenieur über die schlechte Arbeit des Injektors, eines technischen Gerätes, beschwert und daraufhin die Anweisung bekommt, den Häftling Injektor zu bestrafen ("Inžektor" [1956]).
Schließlich die Geschichte "Protezy" (1965). Bei der Einweisung in das Lagergefängnis müssen die Häftlinge ihre Prothesen abliefern: nacheinander wird ein Stützkorsett, ein Arm- und eine Beinprothese sowie ein Hörrohr abgeliefert. Der vorletzte Häftling schließlich liefert sein Glasauge ab. Nur der Ich-Erzähler hat nichts. Die Frage, ob er seine Seele abliefern würde, verneint er.
Der erzählerischen Unabgeschlossenheit der Kurzgeschichte entspricht die Tatsache, dass es sich bei Šalamovs Texten jeweils um Ausschnitte aus einem größeren Lebensabschnitt handelt. Der Intention Šalamovs entspricht das für das Genre charakteristische "partnerschaftliche" Verhältnis von Erzähler und Leser, das auf einen auktorialen Erzähler verzichtet.
Offenbar erzeugt die Er-Perspektive also eine spezifisch "literarische" Struktur, die auch längeren Texten ("Šokovaja terapija", "Poslednij boj majora Pugačeva") aufweisen. Letztere zeigt besonders deutlich die Modifizierung eines Textes durch Veränderung der Erzählperspektive sowie weiterer Elemente.
In "Poslednij boj majora Pugačeva" wird über einen der spektakulärsten Fluchtversuche aus einem Lager auf Kolyma erzählt, der jedoch nach einigen Tagen mit großen militärischem Einsatz und zahlreichen Opfern auf beiden Seiten beendet wurde. Die historischen Tatsachen sind in "Zelenyj prokurator" zu finden. Dabei gibt es wörtliche und fast wörtliche Übereinstimmungen ganzer Passagen beider Texte. Der nüchtern-berichtende Erzählstil wird in "Poslednij boj" aber durch die Innensicht des Majors aufgelockert, der auch die anderen an der Flucht Beteiligten mit ihren Schicksalen vorstellt. Zugleich wird die Geschichte "zu Ende gebracht". Major Pugačev erschießt sich, nachdem seine Gefährten getötet bzw. gefangen genommen worden waren. Der wirkliche Major Janovskij bleibt unauffindbar - eine mögliche Version wird also zur fiktiven Realität.
Fiktiv ist also auch der Name, wobei die Assoziation mit dem tradierten russischen Helden, dem Bauernführer - und dessen Literarisierung in PuŠkins "Kapitanskaja dočka" - jedem Russen auffallen muss.
Worin unterscheiden sich nun diese Texte von denen mit einem Ich-Erzähler?
Wenn eine andere Person im Mittelpunkt steht, kann diese immer nur durch die Perspektive des Erzählers, also von außen betrachtet werden, eine Innensicht ist nicht möglich.
Die Ereignisse bzw. die Folge von Ereignissen ist zufällig und nicht strukturiert: "Wirkliche Abläufe folgen keiner Erzähllogik".
[33] Häufig wird das Erzählen durch Erörtern unterbrochen.
Als Beispiel kann der Text "Vychodnoj den'" (1959) gelten: An einem arbeitsfreien Tag beobachtet der Ich-Erzähler den Geistlichen Zamjatin beim Beten und anschließend zwei Kriminelle, die einen jungen Hund töten und aufessen.
In "žitie inženera Kipreeva" (1967) wechselt die Perspektive wiederholt: der Ich-Erzähler berichtet über seine Begegnungen mit dem Ingenieur, dazwischen wird das Leben und die Lagerhaft Kipreevs aus der Sicht eines wissenden Er-Erzählers dargestellt.
Eine Vermischen von Erinnern und Erzählen ist für viele Texte charakteristisch, so auch "Nagrobnoe slovo" (1960). Der Text beginnt mit: "alle sind gestorben" ("Vse umerli") und zählt die Schicksale von zehn Mithäftlinge des Ich-Erzählers auf, wobei sich mit jedem eine bestimmte Episode verbindet. In einem deutlich abgetrennten zweiten Teil folgt die direkte Wiedergabe eines Gespräches von Häftlinge am Weihnachtsabend: was sie machen würden, wenn sie nach Hause kämen.
Wenn Šalamov in späteren Jahren offenbar einen solchen Texttyp bevorzugt und auf Fiktionalisierungen verzichtet hat, weisen einige frühe Texte einen eindeutig "literarischen" Charakter auf. Jedoch konnte im Rahmen diese Beitrages konnte nur ein Bruchteil der vorhandenen Texte vorgestellt bzw. besprochen werden. Sie harren weiterer Entdeckung.
Anmerkungen
[1] W. Beitz, Vom 'Tauwetter' zur Perestrojka. Russische Literatur zwischen den fünfziger und neunziger Jahren. Frankfurt/Main 1994, S. 355.
[2] Vgl. I. Sirotinskaja, Ob avtore, in: V. Šalamov, Levyj bereg, Moskva 1988, S. 555ff.
[3] Vgl. V. Šalamov, Korotko o moich stichach, in: Voprosy literatury, 5/89, 244 ff.
[4] Vgl. Ju. Šrejder, Predopredelennaja sud'ba, in: Literaturnoe obozrenie, 1/1989, S. 58.
[5] Vgl. E. Šklovskij, Nenapisannyj rasskaz Varlama Šalamova, in: Literaturnoe obozrenie, 8/1989, S. 8 ff.
[6] V. Šalamov, Kolymskie rasskazy, Kniga pervaja, kniga vtoraja, Moskva 1992.
[7]W. Schalamow: Geschichten aus Kolyma. Frankfurt/Main 1983.
[8] Vgl. etwa J. Meichel, Die Gulagwelt in der sowjetischen Gegenwartsprosa. In: Neuste Tendenzen in der Entwicklung der russischen Sprache und Literatur. Hamburg 1992.
[9] Ju. Šrejder, Predopredelennaja sud'ba, S. 57.
[10] Vgl. I. Sirotinskaja, Pis'ma k Solženicynu, in: Znamja, 7/1990, S. 62.
[11] Zit. nach M. Heller, Vorwort zu: Geschichten aus Kolyma, S. 8.
[12] Vgl. V. Šalamov, Pis'ma k Solženicynu, S. 84.
[13] A. Šur, V.T. Šalamov i A.T. Solženicyn. Sravnitel'nyj analiz nekotorych proizvedenij, in: Novyj žurnal, Bd. 155, 1984, S. 92 ff.
[14] Ebd., S. 100. (Hervorhebung von mir - B.J.)
[15] V.Šalamov, Proza, stichi, in: Novyj mir, 6/1988, S. 107.- Deutsche Übersetzung "Über Prosa", in: Warlam Schalamow, Schocktherapie, Berlin 1990, S. 5.
[16] I. Sirotinskaja, Ob avtore, S. 556.
V. Šalamov, Odinočnyj zamer, SguŠčennoe moloko, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 17, 63.
[18] V. Šalamov, [Briefe an Ju. Šrejder], in: Vorprosy lit., 5/89, S. 233, fast wörtlich auch in "Manifest o 'novoj proze'", in: Ebd., S. 243.
[19] Vgl. ebd., S. 232.
[20] Vgl. V. Šalamov, [Briefwechsel mit Boris Pasternak], in: Junost', 10/1988, S.59. -V. Šalamov, O moej proze, Novyj mir, 12/89, S. 60.
[21] Vgl. Pis'ma k Solženicynu, S. 87.
[22] V. Šalamov, Manifest o "novoj proze", S. 233. Ähnliche Passagen finden sich wiederholt in den Briefen und Aufsätzen.
[23] Vgl. ebd., S. 241.
[24] V. Šalamov, [Briefe an Jurij Šrejder], S. 234.
[25] Pis'ma k Solženicynu, S. 84.- Fast wörtliche Übereinstimmung in: V. Šalamov, O moej proze, S. 60.
[26] Manifest o "novoj proze", S. 241. - O moej proze, S. 60.
[27] Vgl. Proza, stichi, S. 107.
[28] Vgl. O moej proze, S. 60, 62.
[29] Vgl. dazu Faulstich, W., Ludwig, H.-W., Erzählperspektive empirisch. Untersuchungen zur Rezeptionsrelevanz narrativer Strukturen. Tübingen 1985, S. 132 ff.
[30] Kak eto načalos, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 371.
[31] "Innenweltdarstellung ist ein äußerst wirksames Mittel zur Sympathiesteuerung, weil dabei die Beeinflussung des Lesers zugunsten einer Gestalt der Erzählung unterschwellig erfolgt." - F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 51991, S. 173.
[32] Odinočnyj zamer, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 19.- Dt. Übersetzung: Die Einzelnorm. In: Schocktherapie, S. 92.
[33] Vgl. J. Landwehr, Fiktion oder Nichtfiktion. Zum zweifelhaftem Ort zwischen Lüge, Schein und Wahrheit. in: H. Brackert, J. Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Reinb.b. Hamburg 1992, S. 501.