"Dokument mit emotionaler Färbung"

Varlam Šalamovs Lagerprosa
 
Varlam Šalamov (1907-1982) gilt neben Aleksandr Solženicyn als der "größte literarische Darsteller des Märtyrertums in den Stalinschen Lagern".[1]
 
Über seine Erlebnisse einer mehr als dreizehnjährigen Haft liegen fast einhundertfünfzig überwiegend kurze Texte vor, die Šalamov selbst als "Kolymskie rasskazy" bzw. "KR" bezeichnete.
 
Der 1907 in Wologda als Sohn eines Priesters und einer Lehrerin geborene Varlam Tichonovic Šalamov kam 1923 nach Moskau, wo er zunächst als Gerber in einer Lederfabrik arbeitete. Von 1926 bis 1929 studierte er Rechtswissenschaft, dann wurde er das erste Mal verhaftet - wegen der Teilnahme an der illegalen Herausgabe von Lenins Testament - und zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verbrachte diese Zeit in einem Lager im Nordural und war am Bau des Beresiner Chemiekombinates beteiligt.
 
Nach der Verbüßung der Haftstrafe kehrte er nach Moskau zurück, wurde aber 1937 erneut verhaftet und aus dem gleichem Grund zu fünf Jahren verurteilt. 1943 wurde eine neue Frist - diesmal von zehn Jahren - verhängt wegen seiner Aussage, Bunin sei ein russischer Klassiker.
 
Šalamov musste unter anderem mehrere Jahre in den Goldminen von Kolyma arbeiten. 1946 veranlasste ein Arzt Šalamovs Ausbildung zum Feldscher, was diesem wahrscheinlich das Leben rettete. 1951 wurde Šalamov aus der Haft entlassen, musste aber auf Kolyma in Verbannung bleiben. Als es ihm 1953 gelang, nach Moskau zu fahren, erhielt er keine Aufenthaltserlaubnis und lebte im Gebiet von Kalinin. 1956 wurde er rehabilitiert und kehrte nach Moskau zurück, wo er einige Jahre als außerordentlicher Korrespondent für die Zeitschrift "Moskva" arbeitete.[2]
 
Die schriftstellerische Laufbahn Varlam Šalamovs begann bereits viele Jahre vor seiner Lagerhaft. Nach eigenen Angaben [3] hatte er bereits mit drei Jahren Lesen und Schreiben gelernt und verfasste seit seiner Kindheit Gedichte. Er beteiligte sich an Schülerzeitschriften, wo er Gedichte, Erzählungen und Essays veröffentlichte und mit Vorträgen über Bal'mont und Blok auftrat. In Moskau schrieb er viele Gedichte und schickte sie an die verschiedensten Redaktionen. 1927 erhielt er eine Antwort von Nikolaj Aseev vom "Novyj Lef" und geriet in einen Zirkel, den Osip Brik leitete, lernte Tret'jakov und Majakovskij kennen.
 
In den dreißiger Jahren verfasste Šalamov Hunderte (an anderer Stelle Dutzende) Gedichte, die jedoch nicht erhalten geblieben sind. Obwohl er sich mit der verschiedensten lyrischen Strömungen, insbesondere mit den Futuristen, beschäftigte, beeindruckte ihn vor allem die Lyrik Paternaks. Er erlebte Pasternak auch persönlich, bezeichnete ihn später als "samyj podlinnyj poet" und meinte, seine Lyrik jener Zeit sei von diesem Dichter beeinflusst. In der Zeitschrift "Oktjabr'" im ersten Heft des Jahres 1936 erschien seine Erzählung "Tri smerti doktora Austino".
 
Šalamov begann während der Haft, nach der vorläufigen Abwendung der tödlichen Gefährdung, Gedichte zu schreiben. Nach seiner Rückkehr nach Moskau erschienen erstmals Gedichte in der Zeitschrift "Znamja", im fünften Heft des Jahres 1957. Auch später konnte er gelegentlich seine Lyrik in Zeitschriften veröffentlichen, außerdem erschienen insgesamt fünf Gedichtbände. Seine Prosatexte über die Kolyma hingegen wollte niemand drucken. Einige kursierten im "Samizdat", andere erschienen in "Tamizdat": in den siebzigen Jahren in dem New Yorker "Novyj žurnal" sowie in einem 1978 in London herausgegebenen Sammelband. Übersetzungen gab es unter anderem in Frankreich sowie der Bundesrepublik Deutschland.
 
1972 wandte sich Šalamov - offenbar auf Anraten des Schriftstellers Boris Polevoj - in einem in der "Literaturnaja gazeta" veröffentlichten Artikel gegen die Herausgabe seiner Texte im Ausland. Von oppositionellen Kreisen wurde Šalamov dafür verurteilt, obwohl sein Motiv für den Artikel vor allem darin lag, die Öffentlichkeit überhaupt von der Existenz seiner Lagertexte in Kenntnis zu setzen.[4]
 
Viele Jahre arbeitete Šalamov voller Energie, doch Krankheiten machten ihm immer mehr zu schaffen. Aber der Antrag der inzwischen allein lebenden Schriftstellers auf eine eigene Wohnung anstelle des Zimmers in der "Kommunalka" wurde abgelehnt, stattdessen bekam er eine Einweisung in ein Altersheim. Wenige Monate vor seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag wurde er aufgrund eines nicht gerechtfertigten ärztlichen Gutachtens zwangsweise in die Abteilung für psychisch Kranke verlegt, wo er nach wenigen Tagen an einer Lungenentzündung starb. [5]
 
Die Publikation seiner "KR" begann mit der Perestrojka, fünf Jahre nach seinem Tod, in den Zeitschriften "Junost'", "Avrora", "Družba narodov" u.a. Seit 1989 wurden von verschiedenen Verlagen Bücher mit diesen Erzählungen herausgegeben. 1992 schließlich erschien eine zweibändige Sammlung, die insgesamt 147 Prosatexte umfasst.[6]
 
Šalamov ist spätestens seit den siebziger Jahren als "Gulag"-Autor bekannt, aber das Interesse an ihm war bisher kaum literaturwissenschaftlicher Natur.
 
Die 1983 in der Bundesrepublik erschiene Ausgabe der "KR" [7]erregte Interesse, zog aber meines Wissens keine genaueren Untersuchungen nach sich. Die Ursache lag dafür offenbar in dem - auf den ersten Blick - autobiographisch-dokumentarische Aufarbeiten der Lagererfahrungen durch Šalamov. Das "inhaltliche" Interesse verstellte aber den Blick für die künstlerische Potenz dieser Texte. [8]
 
So schreibt der Šalamov-Herausgeber Julij Šrejder, der viele Jahre im Briefwechsel mit dem Schriftsteller stand:
 
"Trotz des ausgesprochen dokumentarischen Charakters ist die Prosa keine Alltagsbeschreibung, keine autobiographische Wiedergabe des Erlebten, keine aus der Erfahrung gewonnene Moral. Dies ist hohe Literatur, die die Traditionen der russischen Wortkunst fortsetzt, vor allem die Tradition der PuŠkinschen Prosa."[9]
 
Naheliegend ist sicher ein Vergleich der Texte von Šalamov mit der Lagerprosa von Aleksandr Solženicyn. Die Schriftsteller lernten sich Anfang der sechziger Jahre in Moskau kennen und führten über mehrere Jahre hinweg einen intensiven Briefwechsel. Irina Sirotinskaja, die die Briefe Šalamovs herausgab - für die Veröffentlichung der Briefe von Solženicyn erhielt sie von diesem keine Erlaubnis - schreibt, dass Šalamov sich in diesen Briefwechsel offen über Kolyma, aber auch die Werke Solženicyns äußerte sowie seine Vorstellungen über eine Lagerprosa niederschrieb. Solženicyn sei zurückhaltend und geschäftlich-kurz, wenn auch voller Hochachtung gewesen für die Arbeiten Šalamovs gewesen.[10]
 
Solženicyn schließt die Lager auf Kolyma aus seinem Roman "Archipel' Gulag" ausdrücklich aus, weil Varlam Šalamov darüber viel geschrieben hat und weil eine ganze Reihe von Memoiren entstanden sind. "Schalamows Lagererfahrung war bitterer und länger als meine", bekennt er, "und ich erkenne voll Hochachtung an, dass es ihm, nicht mir zugefallen ist, jenen Boden der Verrohung und Verzweiflung anzurühren, zu dem uns das ganze Lagerleben hinabzog." [11]
 
Die Verschiedenheit der künstlerischen Bewältigung des Lagers bei beiden Autoren ist offensichtlich. Ein wichtiger Streitpunkt war die Einschätzung der Lagerarbeit, wobei Solženicyn wie andere Autoren die Meinung vertrat, dass die Arbeit dem Lagerleben einen Sinn verlieh. Šalamov hingegen war der Auffassung, dass die erzwungene Arbeit ("prinuditel'nyj trud") im Lager nur eine ablehnende Haltung hervorrufen konnte.[12]
 
Eine vergleichende Analyse[13] verweist vor allem auf Unterschiede in der Gestaltung der Häftlinge. Solženicyn beschönige die Beziehungen zwischen den Gefangenen nicht, aber er glaube an Mitgefühl und sogar Liebe. Šalamov hingegen zeige seine Figuren von ihrer dunkelsten Seite. Im Lager seien menschliche Gefühle nicht möglich, alle hohen Vorstellungen und Ideale müssen vernichtet werden, weil die Häftlinge sonst nicht überleben könnte. Begründet wird dies mit den unterschiedlichen Lagererfahrungen. Am Ende des Artikels aber heißt es:
 
"Ungeachtet der schrecklichen Gewissheit Šalamovs, dass im Lager niemand Mensch bleiben kann, bringt sein Buch unbewusst und gegen den Willen des Autors den Leser dazu, an Ehre, Güte, die große menschliche Seele und Würde zu glauben."[14]
 
Ein Widerspruch? Šalamov selbst spricht von ausschließlich negativen Erfahrung des Lagers für den Menschen:
 

 
("Der Autor der ‚KG' sieht das Lager als negative Erfahrung für den Menschen - von der ersten bis zur letzten Stunde. Der Mensch sollte vom Lager nichts wissen, nicht einmal hören. Kein Mensch wird besser oder stärker nach dem Lager.")
 
Wenige Sätze später aber heißt es:
 
("In den 'KG' gibt es nichts, was nicht Überwindung des Bösen, Triumph des Guten wäre - wenn wir uns die Frage auf höherer Ebene, auf der Ebene der Kunst ansehen.")[15]
 
Eine Frage der Kunst? Bei der Außergewöhnlichkeit des Stoffes, der schon an sich starke Wirkungen auf den Rezipienten hervorruft, gerät dessen besondere Gestaltung mitunter aus dem Blickfeld. Solženicyns "Odin den' Ivana Denisovica" und "Archipel' Gulag" unterscheiden sich von den "Kolymskie rasskazy" nicht nur wegen der Unterschiedlichkeit der Autorenerfahrungen und der daraus resultierenden Auffassungen.
 
Es handelt sich nicht um einen Roman (oder eine Povest'), sondern um eine sehr große Anzahl von kurzen und kürzeren Texten, die das Lager unter den verschiedensten Aspekten thematisieren und summiert auch den Umfang eines mehrbändigen Romans ergeben würden. Sirotinskaja spricht von einer "Kolyma-Epopöe" Šalamovs[16] , aber der Begriff der Epopöe, der im System der tradierten sowjetischen Literaturwissenschaft für "höchste Qualität" stand, trifft das Spezifische des Prosa-Werkes wohl nicht. Eher hat Solženicyn versucht, epische Totalität zu erreichen.
 
Wie beschreibt man eine Welt, die mit dem "normalen" Leben der Menschen nichts zu tun hat? Wie ein Leben, in dem Alltag und Lebensbedingungen jene "letzte Grenze" erreicht hatten, hinter der "der Mensch nichts Menschliches mehr hat", in dem der Hunger "alle Gefühle stumpf und kraftlos" werden lässt? [17]
 
Šalamov hat sich wiederholt in Briefen (zum Beispiel an Pasternak und Solženicyn, später an die Philologen Šrejder und Sirotinskaja) sowie in einigen Aufsätzen, die im Archiv des Schriftsteller aufbewahrt werden, über Literatur geäußert. Dabei tauchen einige Aussagen in fast wörtlicher Übereinstimmung immer wieder auf.
 
Die eigentliche russische Literatur sieht Šalamov in PuŠkin verkörpert. An die späteren Autoren, insbesondere Lev Tolstoj (nicht aber Dostoevskij) sind schwere Vorwürfe gerichtet. Šalamov schreibt:
 

 
("Die russische Literatur der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts... hat den Boden gut für das Blut, das im XX. Jahrhundert vergossen wird, vorbereitet...")[18]
 
Gemeint ist der "beschreibende Roman" mit seinen "ausgedachten Schicksalen und Charakteren", aber auch mit seinem Ideengehalt. Generationen von Schriftstellern sei gelehrt worden,
 

 
("dass das Wichtigste für den Schriftsteller die Lebenslehre sei"). Bunin und Cechov hätten Tolstoj zwar verbessert, aber erst Belyj konnte mit "Petersburg" die Tolstojsche Ästhetik überwinden.[19]
 
Šalamov schätzte die Lyrik und frühe Prosa von Pasternak. Dessen Roman "Doktor živago" aber, den er im Manuskript zu lesen bekam, lobte er in den Briefen an den Dichter, bezeichnete ihn später jedoch als "künstlerischen Bankrott" ("chudožestvennyj krach").[20]
 
Denn: Der Roman ist tot. ("Roman umer.") Das betont er bereits gegenüber Solženicyn, dessen povest' "Odin den' Ivana Denisovica" er hoch einschätzt, das Lob für den Roman "V kruge pervom" aber einschränkt.[21]
 
Die Vorbehalte gegen den Roman richten sich gegen die fiktiven Handlungen, die angesichtet der tatsächlichen Weltereignisse unglaubwürdig erscheinen, vor allem wegen der Ideen, die Charaktere und Sujets verkörpern sollen und die nach Hiroshima und den Lagern nicht mehr tragfähig sind.
 

 
("… Zeit zu verschwenden auf erdachte Probleme, auf erfundene Schicksale zur Illustration tolstojscher Ideen - ist einfach eine Sünde.")[22]
 
Šalamov wendet sich gegen den Anspruch des Einzelnen, der sich im Besitz der Wahrheit wähnt. Auch kann die Kunst kann nicht mehr didaktisch sein, sie hat kein Recht, jemanden etwas zu lehren.[24]
 
Dieses Literaturkonzept verhält sich skeptisch gegenüber dem Fortschrittsglauben des bürgerlichen Realismus und ist der Doktrin des Sozialistischen Realismus diametral entgegengesetzt. Die heutige Literatur verlangt nicht viel von einem Schriftsteller, schreibt Šalamov dann auch, den meisten Erfolg haben "banale Ideen in den primitivsten Formen".
 
Šalamov will aber keine Memoiren schreiben. Er wendet sich gegen die in den 60er Jahren veröffentlichten Erinnerungen. Und auch hier ist er rigoros in seinem Urteil, wenn er an Solženicyn schreibt:
 

 
("Auf der Welt gibt es Tausende von Wahrheiten (von glaubwürdigen Wahrheiten und gerechten Wahrheiten), aber es gibt nur eine Wahrheit des Talents.")[25]
 
Einen Ausweg sieht Šalamov spricht in einer "neuen Prosa". Sie soll ein "erlebtes Dokument" sein, ein "Dokument mit emotionaler Färbung".
 

 
("Von allem Vergangenen bleibt das Dokument, doch nicht nur ein Dokument, sondern ein Dokument mit emotionaler Färbung."
 
"Die neue Prosa - ist das Ereignis selbst, aber nicht dessen Beschreibung. Dass heißt - ein Dokument, die direkte Teilnahme des Autors an den Ereignissen des Lebens. Prosa - durchlebt als Dokument.")[26]
 
Šalamov bezeichnete seine Texte auch als Versuch, ein emotional überzeugendes dokumentarisches Zeitzeugnis zu schaffen. Alles, was erzählt wird, hat sich tatsächlich ereignet. Es gibt kein Entrinnen vor den Geschehnissen, auch wenn die gewohnten Maßstäbe überschritten, der Leser erschreckt und verstört, die Verbindung zwischen Schriftsteller und Leser verloren geht.[27]
 
Als grundlegende Regel betrachtet Šalamov den Lakonismus der Texte. Es gibt nichts Überflüssiges. Aber es ist keine "Literatura fakta". Es gibt keine Sujets und keine Charaktere, es gibt Informationen über einen außergewöhnlichen Seelenzustand. [28]
 

 
Šalamov kämpft mit einem "doppelten Tod": dem der Menschen und dem der Literatur. Dem setzt er seine neue Prosa entgegen. Diese, in einem Zeitraum von fast 20 Jahren entstanden, sind in verschiedenen Zyklen zusammengefasst:"Kolymskie rasskasy" (1954 - 1963), "Očerki prestupnogo mira" (1954-1960), "Levyj bereg" (1959 -1965), "Artist lopaty" (1959-1965), "Voskrešenie listvennicy" (1966-1967) und "Perčatka, ili KR 2" (1970-1973).
 
Die angegebenen Entstehungszeiten verweisen auf ein gleichzeitiges Arbeiten an verschiedenen Zyklen. Über die Zusammensetzung der Zyklen hat sich Šalamov meines Wissens nicht explizit geäußert. Gemeinsamkeiten wie Orte lassen sich erkennen, mitunter eine chronologische Anordnung. Da jedoch in diesem Beitrag keine Gesamtanalyse geleistet werden kann, soll hier durch die punktuelle Analyse von Handlungsstrukturen, des wechselnden Grades von Fiktionalität sowie der Spezifik des Erzählers auf die sehr unterschiedliche Erzählweise der Texte aufmerksam gemacht werden. Meines Erachtend gibt es eine Tendenz in den KR von Šalamov, die von "literarischen Werken" in einem tradierten Sinn zu memoirenähnlichen Texten führt. D.h., Šalamov hat in den ersten Jahren Texte geschrieben, die eindeutig literarische Strukturen aufweisen.
 
Die Einmaligkeit der erzählten Ereignisse scheint eine Untersuchung nach überwiegend inhaltlichen Kriterien herausfordern. Auch hat die empirische Literaturwissenschaft festgestellt, dass ein Text seine Wirkung relativ unabhängig von der gewählten Form entfaltet.[29] Also wirken die "KR" in ersten Linie durch die erzählten Ereignisse und rufen aufgrund dieser starke Emotionen hervor.
 
Und doch gibt es Abstufungen, denn innerhalb der "KR" lassen sich zunächst mehr erzählende Texte und mehr resümierend-erörternde Texte unterscheiden. In letzteren werden die Lager auf Kolyma unter einem bestimmten Aspekt betrachtet. In "Kak eto načalos'" (1964) erinnert Šalamov an die Jahre 1937/38. In "Zelenyj prokurator" (1959), einem der längsten Texte der "KR" überhaupt, wird über die vielen, zumeist vergeblichen Fluchtversuche berichtet. Weitere Texte, deren "Inhalt" schon aus dem Titel hervorgeht, sind "Krasnyj krest" (1959) "V bane" (1955).
 
In der Gruppe der mehr erzählenden Texte verfügt ein Großteil der Texte über einen Ich-Erzähler, der bei der entsprechenden Lesererwartung mit dem Autor Šalamov identifiziert wird. Dadurch wird das Genre Erinnerung oder Memoiren aufgerufen. In frühen Texten hat Šalamov diesen Erzählern aber fiktive Namen gegeben (Krist, Andreev u.a.), sie mitunter mit fiktiven Details ausgestattet.
 
Als entscheidend erweist sich jedoch nicht die fingierte Fiktionalität des Ich-Erzählers und auch nicht dessen Status als Akteur oder Beobachter. Denn es gibt keine wesentliche Unterschiede in der Erzählweise zwischen Texten, in denen der Ich-Erzähler selbst Hauptfigur ist und über einen Abschnitt seines Lebens berichtet ("SguŠčennoe moloko" [1956], "Sentencija" [1965], "Zagovor juristov" [1962], "Timfoznyj kvarantin" [1959] und andere) und solchen, in denen eine andere Gestalt, zumeist ein Mithäftling, im Mittelpunkt steht (zum Beispiel "Apostol Pavel" [1954], "Bogdanov" [1970], "Bukinist" [1965], "TiŠina" [1966]).
 
Die Erzählweise ändert sich aber, wenn es sich um Texte mit einem Er-Erzähler handelt. Dabei gibt es ebenfalls Texte mit autobiographischer Grundlage ("Plotniki" [1954], "Artist lopaty" [1964], "Počerk" [1965],) als auch Geschichten über andere Häftlinge ("Noč'ju" [1954], "Odinočnyj zamer" [1955], "Šokovaja terapija" [1956], "Poslednij boj majora Pugačeva" [1959], "Bol'" [1967], ). Unabhängig davon und obwohl der Stoff der gleiche ist wie in der ersten Textgruppe, führt die Er-Erzählung zu einer anderen Struktur. Wesentlich ist neben einer konzentrierten, erzähllogischen Handlung die Innensicht der handelnden Figuren.
 
Es scheint daher möglich, die Texte dem Genre der Kurzgeschichte zuzuordnen. Die Kurzgeschichte (Bei den Merkmalen der Kurzgeschichte beziehe ich mich auf L. Marx, Die deutsche Kurzgeschichte, Stuttgart 1985.) als Lehnübersetzung der amerikanischen short story ist enger gefasst als jener Begriff und meint tatsächlich kurze Geschichten. Obwohl es im Russischen dafür keinen adäquaten Ausdruck gibt und wirklich kurze Erzählformen eher die Ausnahme bilden, entspricht gerade diese Form Šalamovs Bestrebungen. Šalamov bezeichnet den Lakonismus als wichtigstes künstlerisches Prinzip und als Hauptkompositionsprinzip der Kurzgeschichte gilt die Verkürzung und Verknappung: die genannten Texte umfassen zumeist nicht mehr als 1-3 Druckseiten.
 
Kurzgeschichten sind gewöhnlich im Alltag eines Menschen angesiedelt, wobei im Mittelpunkt der Handlung ein ungewöhnliches Ereignis steht. Šalamov, der dreizehn Jahre auf Kolyma verbringen musste, zeigt eben den Alltag des Lagers, wobei dieser Ereignisse hervorbringen kann, die den Tod bedeuten, die aber möglicherweise auch Leben retten. Der Geschichte "Odinočnyj zamer" liegt eine Tatsache zugrunde, die Šalamov in "Kak eto nacalos'" so beschreibt:
 

 
("Die letzte und größte ‚Rubrik', weshalb viele Menschen erschossen wurden: ‚wegen Nichterfüllung der Norm'. Wegen dieses Lagerverbrechens wurden ganze Brigaden erschossen.. Die Nichterfüllung des staatlichen Planes war ein konterrevolutionäres Verbrechen.")[30]
 
In Text werden die letzten zwei Tage des Häftlings Dugaev geschildert. Um seine Arbeitsfähigkeit zu testen, bekommt er eine Einzelnorm, die er wegen seiner fortgeschrittenen körperlichen Schwäche nur zu 25% erfüllt. Daraufhin ergeht der Befehl, ihn zu erschießen.
 
Die emotionale Wirkung, die aufgrund der erzählten Ereignisse vom Text ausgeht, wird durch die Gestaltung der Figur des Dugaev noch verstärkt. Diese ist einerseits sehr allgemein gehalten - der Leser erfährt nur das Alter (23 Jahre) - andererseits werden seine Gedanken und Gefühle geschildert, die eine Identifikation des Lesers mit der Figur ermöglichen.[31]
 
Hinzu kommt der - bei Nichtwissen des oben genannten Kontextes - überraschende Schluss, wobei nur indirekt auf die Erschießung verwiesen wird.
 

 
("...und in der Nacht zu übermorgen führten ihn die Soldaten... Als Dugajew begriff, wie ihm geschah, bedauerte er, daß er umsonst gearbeitet und sich umsonst abgequält hatte an diesem seinem letzten [heutigen] Tag.")[32]
 
Ungewöhnlich ist hier auch die Zeitrechnung im Text, denn der heutige Tag ist eigentlich nicht der letzte Tag im Leben Dugaevs (wie es irrtümlich übersetzt wurde), sondern der, an dem er die Einzelnorm bekam.
 
In "Noč'ju" machen sich zwei Häftlinge in der Dunkelheit auf den Weg, um irgendwo am Rande des Lagers Steine wegzuräumen. Erst nach der Hälfte des Texte stellt sich heraus, dass sie ein Grab öffnen, um dem Toten die Unterwäsche auszuziehen. Diese ist noch gut genug, um sie gegen Brot und Tabak eintauschen zu können.
 
Auch hier wird die Wirkung durch die Innensicht der Figuren und die überraschend-schokierende Auflösung der zunächst unklaren Handlung verstärkt.
 
Eine Wendung gibt es auch in der Erzählung "Počerk". Der Häftling Krist bekommt wegen seiner guten Handschrift Arbeit bei einem Untersuchungsführer. Er muss Listen schreiben. Erst viel später wird ihm klar, dass er Erschießungslisten geschrieben hat, und er erkennt, dass der Untersuchungsführer seine Akte verbrannt und ihm damit das Leben gerettet hat. Eine weitere Verknappung der Erzählhandlung (maximal eine Druckseite) erfolgt in Kurzgeschichten mit quasi-anekdotischem Charakter, in der auf diese Weise die Perversion des Lagers auf die Spitze getrieben wird. So, wenn ein Pferd wird wegen "schlechter Arbeit" ins Lagergefängnis eingewiesen werden soll ("Kaligula" [1962]), oder in einer als Dokument wiedergegebenen Meldung sich ein Ingenieur über die schlechte Arbeit des Injektors, eines technischen Gerätes, beschwert und daraufhin die Anweisung bekommt, den Häftling Injektor zu bestrafen ("Inžektor" [1956]).
 
Schließlich die Geschichte "Protezy" (1965). Bei der Einweisung in das Lagergefängnis müssen die Häftlinge ihre Prothesen abliefern: nacheinander wird ein Stützkorsett, ein Arm- und eine Beinprothese sowie ein Hörrohr abgeliefert. Der vorletzte Häftling schließlich liefert sein Glasauge ab. Nur der Ich-Erzähler hat nichts. Die Frage, ob er seine Seele abliefern würde, verneint er.
 
Der erzählerischen Unabgeschlossenheit der Kurzgeschichte entspricht die Tatsache, dass es sich bei Šalamovs Texten jeweils um Ausschnitte aus einem größeren Lebensabschnitt handelt. Der Intention Šalamovs entspricht das für das Genre charakteristische "partnerschaftliche" Verhältnis von Erzähler und Leser, das auf einen auktorialen Erzähler verzichtet. Offenbar erzeugt die Er-Perspektive also eine spezifisch "literarische" Struktur, die auch längeren Texten ("Šokovaja terapija", "Poslednij boj majora Pugačeva") aufweisen. Letztere zeigt besonders deutlich die Modifizierung eines Textes durch Veränderung der Erzählperspektive sowie weiterer Elemente.
 
In "Poslednij boj majora Pugačeva" wird über einen der spektakulärsten Fluchtversuche aus einem Lager auf Kolyma erzählt, der jedoch nach einigen Tagen mit großen militärischem Einsatz und zahlreichen Opfern auf beiden Seiten beendet wurde. Die historischen Tatsachen sind in "Zelenyj prokurator" zu finden. Dabei gibt es wörtliche und fast wörtliche Übereinstimmungen ganzer Passagen beider Texte. Der nüchtern-berichtende Erzählstil wird in "Poslednij boj" aber durch die Innensicht des Majors aufgelockert, der auch die anderen an der Flucht Beteiligten mit ihren Schicksalen vorstellt. Zugleich wird die Geschichte "zu Ende gebracht". Major Pugačev erschießt sich, nachdem seine Gefährten getötet bzw. gefangen genommen worden waren. Der wirkliche Major Janovskij bleibt unauffindbar - eine mögliche Version wird also zur fiktiven Realität.
 
Fiktiv ist also auch der Name, wobei die Assoziation mit dem tradierten russischen Helden, dem Bauernführer - und dessen Literarisierung in PuŠkins "Kapitanskaja dočka" - jedem Russen auffallen muss.
 
Worin unterscheiden sich nun diese Texte von denen mit einem Ich-Erzähler?
 
Wenn eine andere Person im Mittelpunkt steht, kann diese immer nur durch die Perspektive des Erzählers, also von außen betrachtet werden, eine Innensicht ist nicht möglich. Die Ereignisse bzw. die Folge von Ereignissen ist zufällig und nicht strukturiert: "Wirkliche Abläufe folgen keiner Erzähllogik". [33] Häufig wird das Erzählen durch Erörtern unterbrochen.
 
Als Beispiel kann der Text "Vychodnoj den'" (1959) gelten: An einem arbeitsfreien Tag beobachtet der Ich-Erzähler den Geistlichen Zamjatin beim Beten und anschließend zwei Kriminelle, die einen jungen Hund töten und aufessen.
 
In "žitie inženera Kipreeva" (1967) wechselt die Perspektive wiederholt: der Ich-Erzähler berichtet über seine Begegnungen mit dem Ingenieur, dazwischen wird das Leben und die Lagerhaft Kipreevs aus der Sicht eines wissenden Er-Erzählers dargestellt.
 
Eine Vermischen von Erinnern und Erzählen ist für viele Texte charakteristisch, so auch "Nagrobnoe slovo" (1960). Der Text beginnt mit: "alle sind gestorben" ("Vse umerli") und zählt die Schicksale von zehn Mithäftlinge des Ich-Erzählers auf, wobei sich mit jedem eine bestimmte Episode verbindet. In einem deutlich abgetrennten zweiten Teil folgt die direkte Wiedergabe eines Gespräches von Häftlinge am Weihnachtsabend: was sie machen würden, wenn sie nach Hause kämen.
 
Wenn Šalamov in späteren Jahren offenbar einen solchen Texttyp bevorzugt und auf Fiktionalisierungen verzichtet hat, weisen einige frühe Texte einen eindeutig "literarischen" Charakter auf. Jedoch konnte im Rahmen diese Beitrages konnte nur ein Bruchteil der vorhandenen Texte vorgestellt bzw. besprochen werden. Sie harren weiterer Entdeckung.
 
 
 
Anmerkungen


 
[1] W. Beitz, Vom 'Tauwetter' zur Perestrojka. Russische Literatur zwischen den fünfziger und neunziger Jahren. Frankfurt/Main 1994, S. 355.
 
[2] Vgl. I. Sirotinskaja, Ob avtore, in: V. Šalamov, Levyj bereg, Moskva 1988, S. 555ff.
 
[3] Vgl. V. Šalamov, Korotko o moich stichach, in: Voprosy literatury, 5/89, 244 ff.
 
[4] Vgl. Ju. Šrejder, Predopredelennaja sud'ba, in: Literaturnoe obozrenie, 1/1989, S. 58.
 
[5] Vgl. E. Šklovskij, Nenapisannyj rasskaz Varlama Šalamova, in: Literaturnoe obozrenie, 8/1989, S. 8 ff.
 
[6] V. Šalamov, Kolymskie rasskazy, Kniga pervaja, kniga vtoraja, Moskva 1992.
 
[7]W. Schalamow: Geschichten aus Kolyma. Frankfurt/Main 1983.
 
[8] Vgl. etwa J. Meichel, Die Gulagwelt in der sowjetischen Gegenwartsprosa. In: Neuste Tendenzen in der Entwicklung der russischen Sprache und Literatur. Hamburg 1992.
 
[9] Ju. Šrejder, Predopredelennaja sud'ba, S. 57.
 
[10] Vgl. I. Sirotinskaja, Pis'ma k Solženicynu, in: Znamja, 7/1990, S. 62.
 
[11] Zit. nach M. Heller, Vorwort zu: Geschichten aus Kolyma, S. 8.
 
[12] Vgl. V. Šalamov, Pis'ma k Solženicynu, S. 84.
 
[13] A. Šur, V.T. Šalamov i A.T. Solženicyn. Sravnitel'nyj analiz nekotorych proizvedenij, in: Novyj žurnal, Bd. 155, 1984, S. 92 ff.
 
[14] Ebd., S. 100. (Hervorhebung von mir - B.J.)
 
[15] V.Šalamov, Proza, stichi, in: Novyj mir, 6/1988, S. 107.- Deutsche Übersetzung "Über Prosa", in: Warlam Schalamow, Schocktherapie, Berlin 1990, S. 5.
 
[16] I. Sirotinskaja, Ob avtore, S. 556.
 

 
V. Šalamov, Odinočnyj zamer, SguŠčennoe moloko, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 17, 63.
 
[18] V. Šalamov, [Briefe an Ju. Šrejder], in: Vorprosy lit., 5/89, S. 233, fast wörtlich auch in "Manifest o 'novoj proze'", in: Ebd., S. 243.
 
[19] Vgl. ebd., S. 232.
 
[20] Vgl. V. Šalamov, [Briefwechsel mit Boris Pasternak], in: Junost', 10/1988, S.59. -V. Šalamov, O moej proze, Novyj mir, 12/89, S. 60.
 
[21] Vgl. Pis'ma k Solženicynu, S. 87.
 
[22] V. Šalamov, Manifest o "novoj proze", S. 233. Ähnliche Passagen finden sich wiederholt in den Briefen und Aufsätzen.
 
[23] Vgl. ebd., S. 241.
 
[24] V. Šalamov, [Briefe an Jurij Šrejder], S. 234.
 
[25] Pis'ma k Solženicynu, S. 84.- Fast wörtliche Übereinstimmung in: V. Šalamov, O moej proze, S. 60.
 
[26] Manifest o "novoj proze", S. 241. - O moej proze, S. 60.
 
[27] Vgl. Proza, stichi, S. 107.
 
[28] Vgl. O moej proze, S. 60, 62.
 
[29] Vgl. dazu Faulstich, W., Ludwig, H.-W., Erzählperspektive empirisch. Untersuchungen zur Rezeptionsrelevanz narrativer Strukturen. Tübingen 1985, S. 132 ff.
 
[30] Kak eto načalos, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 371.
 
[31] "Innenweltdarstellung ist ein äußerst wirksames Mittel zur Sympathiesteuerung, weil dabei die Beeinflussung des Lesers zugunsten einer Gestalt der Erzählung unterschwellig erfolgt." - F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 51991, S. 173.
 
[32] Odinočnyj zamer, in: Kolymskie rasskazy. Kniga pervaja, S. 19.- Dt. Übersetzung: Die Einzelnorm. In: Schocktherapie, S. 92.
 
[33] Vgl. J. Landwehr, Fiktion oder Nichtfiktion. Zum zweifelhaftem Ort zwischen Lüge, Schein und Wahrheit. in: H. Brackert, J. Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Reinb.b. Hamburg 1992, S. 501.