Matriarchat und Sozialismus

Zunächst muss geklärt werden, was unter dem umstrittenen Begriff zu verstehen ist. Matriarchat ist eine Neubildung vom Ende des 19. Jahrhunderts und wird seitdem - im Gegensatz zum Patriarchat - als Herrschaft der Frauen gedeutet. Heide Göttner-Abendroth geht in ihren Untersuchungen davon aus, dass es ein Matriarchat in dem Sinne, dass die Frauen geherrscht hätten wie später im Patriarchat die Männer, nicht gegeben hat. Wohl aber gab es "von Frauen geschaffene und geprägte Gesellschaften, in denen sie dominierten, aber nicht herrschten" [1].

Im sowjetischen Bewusstsein waren wohl vor allem Friedrich Engels' "Der Ursprung der Familie, des Privateigentumes und des Staates" sowie August Bebels "Die Frau und der Sozialismus" präsent. Engels ging - vor allem in Anlehnung an Bachhofen 1861 erschienen Buches "Das Mutterrecht" - für die Urgesellschaft von der Existenz eines solchen Rechtes aus, das aber mit der Entwicklung des Privateigentums in den Händen einzelnen Männer allmählich zum Vaterrecht mutiert. Bebel korrigiert diese Meinung insofern, dass er einen langen Widerstand der Frauen annimmt.

Da beide das Mutterrecht für die Urgesellschaft ansetzen, die als klassenlose Gesellschaft den Ursprung für das allgemeine Menschheitsziel darstellt, erhält es im später gebräuchlichen Begriff des Matriarchats eine utopische Dimension.

Auch Aleksandra Kollontaj übernimmt diese Vorstellungen. Sie sagt sogar, dass das Matriarchat in der Phantasie des Volkes als glücklichstes und gerechtestes Zeitalter erschien. [2]

Auch Gor'kijs Ausführungen in einem Brief an die Schriftstellerin Ol'ga Forš im November 1926 können in diesem Sinne gedeutet werden. Er schreibt: "Die Menschheit muß unbedingt zum Matriarchat zurückkehren, der Mann hat seine Rolle ausgespielt.") [3]

Er äußert sich begeistert über die Bücher zweier deutscher Autorinnen. "... und zwar nicht nur deshalb, weil Kühn und Weinberg überzeugte Gynäkokraten sind, sondern wegen der Kühnheit und der Beweiskraft, mit der sie über die 'Götterdämmerung der Männer' sprechen. Über dieses Faktum zu sprechen, ist die Zeit schon lange reif, denn es ist doch schon klar, dass der Mann allseitig bankrott gemacht hat und geistig versiegt ist. Meine, mir von Jugend an eigene Verehrung und die Bewunderung für die Kraft der Frau ... hat mich schon längst auf den Gedanken gebracht, dass die Herrschaft des Mannes über die Erde zu Ende geht und dass die Macht über die Welt auf die Frau und Mutter der Erde übergehen muß." (156)

Ol'ga Forš gibt daraufhin eine Antwort aus der Sicht der Frauen: Die Philosophen haben die Frauen jahrhundertelang erniedrigt, es fällt ihnen schwer, sich zu artukulieren.

"Die Frauenfrage läßt sich in ihrer Tiefe nicht auf juristischem Wege lösen, sondern nur durch eine komplizierte und mühevolle Selbstbefreiung." (155)

Nur am Rande sei auf das Beispiel der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Kajdaš verwiesen, die in einem Aufsatz Gor'kij sehr ungenau zitiert und seine Meinung ins Gegenteil verzerrt, das zeigt, wie mitunter frauenfeindliche Haltungen einfach vorausgesetzt werden. Kajdaš zitiert die These von Ol'ga Forš über die notwendige Selbstbefreiung der Frau. Dann schreibt sie:

"Dies war die Antwort auf Gor'kijs Klagen vom 'Beginn der Dämmerung der Männer', des neuen Matriachats, der 'Gynokratie'. Aber die Befürchtungen des proletarischen Schriftstellers erwiesen sich als verfrüht." [4]

Die profane Vorstellung vom Matriarchat als "Macht der Frauen" hat in Verbindung mit vorhandenen fest verankerten patriarchalische Vorstellungen über die Rollen der Geschlechter die tatsächlichen Gegebenheiten in der Sowjetunion der Nachkriegszeit - allgemeiner Frauenüberschuss, Frauen in "Männerberufen", das "weibliche" Gesicht von Volksbildung und Gesundheitswesen zu einer merkwürdigen Vorstellung von der Rolle der Frau geführt, die mit dem Begriff des "Sowjetmatriarchats" umschrieben wird. Wenn, wie Marianne Butenschön schreibt, sowjetische Soziologen "schon vor Jahren" die Beobachtung gemacht haben wollen, "dass die Sowjetgesellschaft auf dem Weg ins Matriarchat sei" [5], so erhält der Begriff eine äußerst ambivalente Bedeutung. Einerseits ist er positiv besetzt (Matriarchat = Urgesellschaft = Kommunismus), zum anderen verweist er auf einen "unnatürlichen" Zustand, denn der Herr ("chozajn") im Hause ist der Mann. Und dies wird auch von den Frauen so gesehen. Die Ich-Erzählerin aus "Pod fonarem" reflektiert:

"Ist sie denn eine Haufrau? Seit langem schon ist sie das Oberhaupt der Familie. Familienhaupt und Hausfrau in einer Person. Aber gibt es das? Zwei vollwertige Personen in einer? In Büchern wohl, im Leben nicht." [6]

Diese Verstrickung entgegengesetzter Aspekte hat möglicherweise Soja Margolina dazu bewogen, in ihrem Russland-Buch das Kapitel über die Frauen "Das sowjetische Matriarchat. Gleichberechtigung in der Destruktivität" zu nennen. Ihr dient "Sowjetmatriarchat" eher als eine Metapher für die Verhältnisse Sie versucht, anhand der historischen Entwicklung des Landes spezifische Eigenschaften der russischen Frau herauszuarbeiten, die sie vor allem in der Stärke und Überlebensfähigkeit russischer Bäuerinnen vergangener Jahrhunderte sieht. Für das 20. Jahrhundert haben die beiden Weltkriege und der Stalinsche Terror bewirkt, dass "Frauen ohne Mann, Familien ohne Vater ... nicht mehr nur die Ausnahme, sondern fast die Regel" waren. Die politische Emanzipation war "Voraussetzung für ihre Massenrekrutierung zur Industrialisierung und Modernisierung des Landes", aber die traditionellen Werte und Verhaltensmuster der Frau - insbesondere der Bäuerin - wurden beibehalten. Des weiteren ging die wachsende Unabhängigkeit der Frau "mit der sozialen Degradierung des Mannes" einher, sein Machtverlust mit dem (begrenzten) Machtzuwachs der Frau. Diese konnten jedoch keine Vorstellungen über ihre Interessen entwickeln und daher die gegebenen Verhältnisse nicht in ihrem Sinn nutzen: "Die Frauen blieben die gehorsamsten Werkzeuge ihrer Männer". [7]

Margolina widerspricht damit der Auffassung, in den Frauen immer nur die Opfer sehen zu wollen und verweist auf die vielen Lehrerinnen, die das autoritäre und restriktive Schulsystem durchzusetzen halfen.

Des weiteren verweist sie auf die Tatsache, dass nicht nur die Erziehung der heranwachsenden Generation fast vollständig den Frauen überlassen wurde, sondern diese auch in anderen Bereichen des Lebens - so der medizinischen Betreuung, dem Handel und dem Dienstleistungsgewerbe - überrepräsentiert waren.

"Tatsächlich gehörte die quantitative Dominanz der Frauen zu den Alltagserfahrungen der meisten Männer, wenn sie nicht gerade beim Militär, in der Strafanstalt oder in der männerbündischen Intimität der Macht waren."(S. 63f.)

Der Mann war von Frauen abhängig: als Junge in der Schule, später zum Beispiel von den Vertreterinnen des sowjetischen Einzelhandels. Bei den bekannten Problemen konnte da schon "Macht" entstehen. Viel gravierender für die Haltung und Meinung der Männer war sicher der subjektive Eindruck von "Unterdrückung".

Die These von Sowjetmatriarchat stützt sich zwar auf Alltagserfahrungen, gibt aber die realen Verhältnisse nur sehr verzerrt wieder. Anmerkungen


[1] H. Göttner-Abendroth, Das Matriarchat. Stuttgart ²1989, S.9. Daher ist die Polemik mit Wesel nur scheinbar, denn dieser definiert Matriarchat eben als Herrschaft. - Vgl. U. Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980.
[2] A. Kollontai, Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung.Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov Universiät 1921. Verlag Neue Kritik 1975, S. 24
[3] Vgl. Gor'kij i sovestskie pisateli. Moskva 1963, S. 590. - Dt. Übersetzung in: M. Gorki, Briefwechsel mit sowjetischen Schriftstellern. Berlin 1984, S. 152. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgaben.
[4] S. Kajdaš, Svetlana: O "ženskoj kul'ture". In: Feminizm. Vostok - Zapad - Rossija. Moskva 1993, S. 199.
[5] M. Butenschön, Frauenemanzipation in der UdSSR. Anspruch und Wirklichkeit, in: Osteuropa, 3/1977, S. 209.
[6] I. Grekova, Pod fonarem. Zit. nach: Dies., Na ispytanijach. Moskva 1990, S. 535. Dt. Übersetzung: Unter der Laterne. In: I. Grekowa: Ein Sommer in der Stadt. Berlin und Weimar 1972, S. 49.
[7] Vgl. S. Margolina, Rußland. Die nicht zivile Gesellschaft. Reinbeck bei Hamburg 1994, S. 60.

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