Erzählen und Erzähler bei Tat'jana Tolstaja

Zu Person und Schaffen

Tat'jana Tolstaja wurde 1951 in Leningrad geboren. Sie studierte Altphilologie und arbeitete mehrere Jahre als Redakteurin in einem Moskauer Verlag. Ihre ersten Erzählungen wurden 1983 veröffentlicht. Ihr 1987 erschienener Erzählband "Na zolotom kryl'ce sideli" erregte großes Aufsehen, Tolstaja wurde schnell in der Sowjetunion und im Ausland bekannt. Bis 1988 erschienen rund zwanzig Erzählungen, danach gab es kaum noch neue Texte von ihr.

Alla Marčenko schreibt in ihrem polemische Artikel "Gde iskat' ženšcinu" über den Verbleib dieser Autorin:

"Tat'jana Tolstaja lebt einfach nur. In dem für ein Einfach-Nur-Leben bequemsten fernen Land hinterm Ozean." [1]

Tolstaja stellt somit ein recht seltenes Phänomen dar - eine vielversprechende Schriftstellerin, die nicht versucht, ihren Erfolg fortzusetzen (zunächst jedenfalls).

Das Geheimnis ihres Erfolges wie auch die Schwierigkeiten bei der Interpretation ihrer Texte resultieren aus der ungewöhnlichen Mischung einer sehr bildhaften Sprache, die ein romantisches Weltgefühl impliziert, und einer eher unterkühlten Beziehung zum Dargestellten. Die Autorin weicht damit eindeutig von der realistischen Erzähltradition ab. Faszinierend auch viele ihrer Figuren, die mannigfaltige Defizite aufweisen: alt und einsam sind ("Dorogaja Šura"), debil oder psychisch krank (Aleksej Petrovic in "Noc'"), vom Leben einfach benachteiligt ("Peters").

Figuren, die "normale" Menschen sind, verzehren sich nach einem anderem, einem schönen, einem besonderen Leben, hoffen auf eine verheißungsvolle Zukunft. Alle haben Träume, Wunschvorstellungen, die sie nicht verwirklichen können.

Von der Literaturkritik wurden Tolstajas Erzählungen fast einhellig begrüßt. [2] Die Rezensenten sind ausnahmslos gezwungen, sich näher mit der Sprache der Texte auseinander zu setzen.

Immer wieder wird auf lyrische Elemente verwiesen. Viele Textstellen lesen sich wie "Gedichte in Prosa" - als Beispiel soll hier auf die Beschreibung des Neubaugebietes in "Fakir" verwiesen werden:

"Und bei ihnen an der Peripherie? Mein Gott, was drückt da jetzt für eine dichte, ölig-eisige Dunkelheit, welch eine Leere gähnt in den zugigen Häuserschluchten, nicht einmal die Häuser sind mehr zu sehen, verschmolzen mit dem schwarzen schneeschweren Nachthimmel, nur ein unstetes Muster hier und das leuchtender Fenster - kleine goldene, grüne, rote Quadrate, kraftlos sich mühend, die Polarnacht auseinanderzustoßen..." [3]

In einer Kritik heißt es, Tat'jana Tolstaja protestiere gegen die grausame Eintönigkeit des Lebens mit einer "schönen Welt aus Metaphern" .[4] Charakteristisch sind nicht nur die unzähligen Metaphern, sondern auch zahlreiche Personifizierungen und Vermenschlichungen von Tieren. Traumgestalten beobachten das Leben der Helden ("Reka Okkervil'"), Porträts wenden die Augen ab ("Peters"), Verse erzeugen beißenden Rauch ("Poet muza") u.a.m. Jedoch gibt es nicht nur eine "Grundmetapher", die das Sujet bewegt [5], sondern Bilder, Vergleiche, Metaphern usw. verdichten sich zu einem - immer wieder anders gestalteten - Geflecht, werden zu komplexen Vorstellungen.

Tat'jana Tolstaja und die "Frauenliteratur"

Wenn man unter Frauenliteratur Texte versteht, "die bewusst eine Auseinandersetzung mit der Frauensituation" bringen [6], so lässt sich Tolstajas Prosa hier nicht einordnen. Jedoch ist ihre Schreibweise "weiblich", wenn die Auffassung von Sigrid Weigel zugrundegelegt wird, wonach die Frauen den "doppelten Ort", an dem sie sich befinden - inmitten in der Gesellschaft und zugleich ausgeschlossen von ihr - durch mannigfaltige Schreibweisen zum Ausdruck zu bringen: "... z.B. doppelte und vielfach verdoppelte Perspektiven, die Anwendung bestehender Genremuster und ihre gleichzeitige Zerstörung, Beschreibungen von innen und außen zugleich..." [7]

Einer thematisch eingegrenzten Frauenliteratur lässt sich Tat'jana Tolstaja also nicht zuordnen, möglicherweise aber einer als "weiblich" verstandenen spezifischen Schreibweise.

Nun hat die Entwicklung der Geschlechterbeziehungen in der Sowjetunion zu einer parallelen Existenz einander widersprechender Vorstellungen geführt. Diese werden auch in Interviews mit Tat'jana Tolstaja deutlich, die hier aber nicht zur Beweisführung herangezogen werden sollen, da sie oft ironisieren bzw. polemisch überspitzt sind. [8] Wie den Ausführungen im zweiten Kapitel zu entnehmen ist, steht sie mit ihrer Aussage - "Nicht der Mann hat die Frau versklavt, sondern die Gesellschaft den Menschen" - nicht im Widerspruch zu gängigen Überlegungen. Und wenn sie die Existenz einer Frauenliteratur bestätigt, so kann sie - aufgrund des geringen Anteils weiblicher Autoren - "ženskaja literatura" auch einfach als Literatur von Frauen betrachten. [9]

"Poet i muza"

Der Text gehört aufgrund seiner künstlerischen Dichte und Geschlossenheit, aber auch wegen des bemerkenswerten Wechselspiels zwischen stark subjektiver Figurenperspektive und eingeschobenem distanzierten Erzähler-Beobachter zu den interessantesten Texten der Autorin. Erzählt wird von der 35-jährigen Ärztin Nina, die sich den Hausmeister und "verkannten Dichter" Griša als Ehemann erwählt und mit ihren Forderungen und Besitzansprüchen schließlich in den Tod treibt.

Bereits der erste Satz enthält eine Reihe wichtiger Informationen und verweist auf die spezifische Erzählweise:

"Nina war eine schöne, normale Frau, noch dazu Ärztin, und ihr Recht auf persönliches Glück hatte sie, wie jeder, unbedingt verdient." [10]

Der Satz benennt nicht nur die wichtigste Figur in der Erzählung, sondern auch das "Thema", das menschliche Glück. Bereits hier erfolgt die erste Charakterisierung der Figur der Nina als "schöne, normale Frau, dazu Ärztin". Was aber bedeutet die Aussage: sie ist eine normale Frau? Wer hat diese Meinung?

Im Verlauf des Textes wird deutlich, dass zumeist aus der Sicht der Nina erzählt wird. An einigen Stellen wird deren Perspektive jedoch verlassen, ein distanzierter, beobachtender Erzähler tritt auf. Das bedeutet: Keine der im Text getroffenen Aussagen kann von vornherein als wahr oder als Meinung des Erzählers betrachtet werden.

In "Poet i muza" ist neben der eindeutig dominierenden Figur, der Ärztin Nina, ihr späterer Mann Griša wichtig. Für die Erzählung relevante Nebenfiguren sind Grišas "Freundinnen" Lizaveta und Agnija, sowie Ninas "Geliebter" Arkadij Borisyc. Darüber hinaus aber gibt es eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Episodenfiguren: Die Besucher des Seitenhauses. Alle Figuren werden aus der Sicht der Nina, zum Teil aus der Sicht des beobachtenden Erzählers betrachtet. Nur Nina selbst wird ausschließlich in ihrer eigenen Sicht betrachtet: über sie fällt kein einziges kritisches Wort. Die Einschätzung der Hauptfigur kann also nicht direkt dem Text entnommen werden.

Bereits zu Beginn der Erzählung fällt auf, dass Nina keine "normale Frau ist", auch wenn oder gerade weil sie das immer wieder behauptet. Ihre Vorstellung über die "richtige" Liebe im Auge, würde man vielleicht sagen, sie übertriebene Vorstellungen. Auf den ersten vier Seiten, die eine Art Monolog der Nina darstellen (auch wenn er in der 3. Person geschrieben ist) wird sehr deutlich, dass Nina sehr von sich überzeugt ist, sowohl, was ihr äußeres Erscheinungsbild betrifft, wie auch ihre "inneren Werte".

"...eine ganz normale Frau, freilich eine schöne, dazu Ärztin"
"... das Gesicht weiß und schön... schwarzes, glattes Haar..."
"... einen x beliebigen brauchte sie auch wieder nicht. Ihr Seelenleben wurde mit den Jahren immer reicher, und immer tiefer und feiner verstand und empfand sie sich selbst."

Die hohe Meinung, die Nina von sich selbst hat, kann bereits zu Beginn des Textes zumindest Misstrauen hervorrufen, auch wenn Ninas Sehnsucht nach einer "richtigen" Liebe durchaus verständlich ist. Fragwürdig wird ihr Verhalten dann, als sie Griša kennen lernt, und sie sofort bestimmt, dass sie auf ewig zusammenbleiben werden. Das derzeitige Leben Grišas betrachtet sie mit Eifersucht. Sie will mehr sein als eine zufällige, zeitweilige Freundin, nämlich eine Herrin mit Vollmachten, sie will Griša in einer Truhe einmotten und diese fest verschließen.

Dieses Bild, das auf dem russischen Märchen wie auch dem alten russischen Leben beruht, zeigt deutlich das Besitzstreben Ninas. Der Vergleich Grišas mit einem Schiff, das Nina an Land ziehen und aufblocken will, verdeutlicht, dass Griša sein Lebensraum, in dem er existieren kann, genommen wird.

Bestürzende Formen nimmt die Handlungsweise Ninas an, als sie beschließt, ihre "Nebenbuhlerin" Lizaveta aus dem Weg zu räumen. Hier bedient sich die Autorin bereits phantastischer Bilder.

"Lisaweta hielt sich in Kellern versteckt, Nina setzte die Keller unter Wasser, Lisaweta nächtigte in Schuppen, Nina riß die Schuppen ab, schließlich verschwand Lisaweta ganz und wurde ein Schatten."

Letztendlich jedoch muss Nina scheitern. Obwohl es ihr gelingt, Griša in ihren "Kristallpalast" zu bringen, und sie sich über ihren Besitz freut "alles an ihm ist dein, dein" lebt und vor allem schreibt Griša nicht so, wie Nina es verlangt, und mit ihren Vorwürfen und Befehlen erreicht sie nichts.

Zwei Jahre sind vergangen, als Nina erfährt, dass Griša in das Seitenhaus zurückwill, und nun holt sie zum letzten Schlag aus. Sie erreicht, dass das Seitengebäude für ein medizinisches Institut genutzt wird.

Eine deutliche Niederlage erleidet Nina, als Griša sein Skelett an die Akademie der Wissenschaft verkauft, denn er gehört ihr nun nicht mehr ganz. Jedoch kommt es ihr keinen Augenblick in den Sinn, sie könne in irgendeiner Weise am Scheitern ihrer Beziehung schuld sein.

"Und seit diesem Moment, sagte Nina später, ging es mit ihrer Liebe bergab ... Doch trotzt allen Kummers, den er ihr bereitet hatte, war ihr dennoch, sagte sie, ein lichtes Gefühl verblieben, Und wenn die Liebe sich nicht so gestaltet wie erträumt sie, Nina, war jedenfalls nicht daran schuld. Das Leben war schuld."

Nach seinem Tod tröstet sie sich damit, dass jede Sache auch ihre gute Seite hat wie eine andere Frau sich nach dem Tod ihres Mannes ein Zimmer der gemeinsamen Wohnung im russischen Stil eingerichtet hatte.

Obwohl die meiste Zeit aus der Sicht der Nina berichtet wird, und der distanzierte Erzähler nur ab und zu "hörbar" ist, wird gegen Schluss der Erzählung die Distanz zwischen dem Erzähler und der Figur der Nina größer. Dies zeigt sich an dem wiederholten Einschub von "sagte sie" zeigt.

Beurteilt werden kann Nina nach ihrer Handlung. Sie richtet zwei Menschen zugrunde Griša und auch Lizaveta. Die Autorin bedient sich dabei wie bereits gezeigt zum Irrealen, Phantastischen neigender Bilder wie auch der Hyperbolisierung: Griša, ein junger und offensichtlich nicht kranker Mann, stirbt. Rücksichtslosigkeit und Besitzstreben erweisen sich für eine wirkliche Liebe als völlig ungeeignet, machen jede Beziehung kaputt. Das Bemerkenswerte an der Darstellung von Nina besteht darin, dass sie nie explizit kritisiert wird, sich der Leser seine Meinung zur Figur der Nina selbst erarbeiten muss.

Griša begegnet dem Leser in der Sicht von Nina als "dämonisch schön".

"Die bitteren Schatten auf der Alabasterstirn, das Dunkel in den eingefallenen Augenhöhlen, der zarte Bart, licht wie ein Frühlingswald ..."

Von seiner Freundin Agnija wird Griša als Dichter, Genie und Heiliger bezeichnet, der den Hausmeister wegen der Wohnung macht. Er wird dann als charakterlich "weich" eingeschätzt. Seine "Unreife" kommt schon durch die durchgängige Bezeichnung mit Griša oder Grišunja, den Deminuitiva von Grigorij, zum Ausdruck.

Unter den Besuchern des Seitengebäudes gilt er als Genie, seit Jahren soll jeden Moment ein Gedichtband von ihm erscheinen. Jedoch zeigt die originelle Beschreibung von Griša Versen durch den beobachtenden Erzähler, dass nur in seinem Lebenskreis - unter den Besuchern des Seitenhauses - als Dichter anerkannt werden kann.

" üppige, vielschichtige Verse wie teure vorbestellte Torten, mit verschlungenen Widmungen und triumphalen Baisertürmen, Verse, bis zur Unverdaulichkeit mit fettem Sprachkram gefüllt, mit dem jähen Nußgeknusper einer Konsonantenhäufung und peinigenden, plombenziehenden Sahnebonbons von Reimen."

Insgesamt wird er wohl ironisch gesehen, was sich auch in seiner Darstellung als vortragender Dichter zeigt.

"Aber Griša, der selige Tor ... las ihr Gedichte vor, winselnd und bei den Reimen verhaltend, und dann, von seiner eigenen Schöpfung gerührt, wandte er sich mit heftigem Zwinkern ab..."

Aus seinem Milieu genommen, ist er dann auch nicht mehr in der Lage zu dichten, verkümmert sein Talent endgültig. Griša vermag nicht, sich gegen die Besitzansprüche Ninas zur Wehr zu setzen, obwohl seine Zuneigung eigentlich der Malerin Lizaveta gilt.

In Ninas Wohnung lebend, dichtet Griša nicht mehr oder nur noch Verse, die Nina kränken, weil sie seine tatsächliche Situation, sein Eingesperrtsein, verdeutlichen. Wieder gehen die in der Erzählung genutzten Vergleiche ins Phantastische: als Griša an den Tod denkt, dichtet er nicht mehr in Reimversen.

"... und aus den minderwertigen Zeilen schlug statt der reinen Flamme weißer stickiger Rauch, dass Nina gepeinigt hustete..."

Als sein schwacher Ausbruchsversuch scheitert, vermag Griša Nina nur noch durch seinen Tod zu entrinnen, wobei er ihren Besitzansprüchen durch den Verkauf seines Skeletts ein Ende setzt. Jedoch kann Griša die Sympathie der Leser nur bedingt gehören. Er ist nach der Einschätzung des Erzählers - kein wirklicher Dichter, Erfolg hat er nur in seinem "Kreis" aus ebensolchen verkannten Genies und verkrachten Existenzen wie selbst. Er ist schwach, setzt Nina keinerlei Widerstand entgegen und wird so mitschuldig an der Vertreibung Lizavetas.

Im Grunde genommen ist er gar kein Mann! So heißt es zum Beispiel: "er war schwächlich, weinte viel, wollte nicht essen", so dass er mehr einem ungezogenen Kind ähnelt.

Auch die anderen männlichen Figuren geben nicht viel her. Arkadij Borisyc hat zwar zwei Familien, Nina nicht gerechnet, fürchtet aber als Arzt nichts so sehr wie Ansteckung: "Stand, rosig, satt, stramm, rund wie ein Ei..." Der Mann der Freundin ist absolut gewöhnlich: "Standarttyp, Halbglatze, Trainingshosen mit ausgebeulten Knien"). Es gibt keinen "wirklichen" Mann in der Erzählung.

Bei den Frauen sieht es auch nicht besser aus. Neben Nina gibt es noch die schöne, aber talentlose Agnija und die hässliche, offenbar nicht sehr erfolgreiche Malerin Lizaveta. Jedoch ist es lohnend, sich mit dieser Figur und ihrem Umfeld näher zu beschäftigen.

Schon bei der Wahl des Stoffes fällt auf, dass hier Material aus zwei verschiedenen Milieus genutzt wurde. Neben dem Arztmilieu wird ein Lebensbereich beschrieben, das man als "Szene" bezeichnen könnte: die Darstellung der Besucher des Seitengebäudes. Diese werden ausführlich, sehr bildhaft und expressiv, aber nicht unkritisch beschrieben.

Schließlich werden zwei Themen entwickelt: (1) das Thema der Suche nach Liebe und Versuch ihrer Verwirklichung und (2) das Thema der Existenz und Vernichtung einer "Szene", wobei das erste Thema eindeutig dominiert, das zweite sozusagen "untergeschoben" wird.

Damit im Zusammenhang gewinnt die Figur der Malerin Lizaveta und die Darstellung ihrer Probleme an Bedeutung. Insgesamt wird Lizaveta eher negativ betrachtet, was zunächst darin begründet ist, dass sie überwiegend aus der Sicht Ninas beschrieben wird, nämlich als "armseliges Geschöpf, dürr wie eine Gabel". "... überhaupt hatte sie etwa von einem Fisch, einem stumpfen schwarzen Tiefseefisch". Lizavetas Art zu malen wird mit dem fiktiven Begriff "Krallismus" bezeichnet und als ein abscheuliches Schauspiel bezeichnet. Der darauf folgende Satz aber lautet:

"Aber es entstanden tatsächlich Gebilde wie Wasserpflanzen, Sterne oder Schlösser am Himmel, etwas Kriechendes und Fliegendes in einem."

Das ist die Stimme des Erzählers, und er bringt seine Sympathie für diese nicht anerkannte Art zu malen zum Ausdruck.

Die Autorin bringt hier geschickt, wie nebenbei, das Problem der "nichtoffiziellen" Kunst und ihrem vergeblichen Bemühen um Anerkennung zur Sprache. Während die "Szene" tatsächlich nichts weiter darstellt als eine bunte Mischung verschiedenster mehr oder weniger "verkrachter Existenzen", ist die Situation Lizavetas und ihrer Malerei ein Problem, das ernst zu nehmen ist. Auch zeigt die Geschichte, wie angebliche Liebe zur Todesfalle gerät, wenn Liebe mit Besitz verwechselt wird, wobei noch dazu der Zweck die Mittel "heiligt".

Tat'jana Tolstaja zeichnet das ziemlich düstere Bild einer Gesellschaft, in der Liebe nicht verwirklicht werden kann und auch unangepasste Kunst durch die verordneten Zwänge nur wenig Chancen hat.

"Noc'"

Es wird ein Tag im Leben eines vierzigjährigen behinderten Mannes und seiner achtzigjährigen Mutter geschildert.

Tat'jana Tolstaja bezeichnet diesen Text als eine ihrer Lieblingsgeschichten. Für sie war vor allem das "Problem des Nichtanpassens" eines Menschen an die Gesellschaft, das alltägliche Leben von Bedeutung. [11] Offenbar deshalb kümmerte sie sich nicht um das Krankheitsbild des Helden. Es ist keine Aussage darüber möglich, ob es sich um einen geistig behinderten, einen psychisch Kranken oder beides zusammen oder etwas ganz anderes handelt. So ist Aleksej Petrovic eine rein fiktive Figur, vergleichbar mit dem "Engel" Serafim aus der gleichnamigen Erzählung.

Charakteristisch für "Noc" ist ein multiperspektivisches Erzählen, d. h. es findet ein Wechsel zwischen drei verschiedenen Sichten statt.

Die wichtigste Perspektive ist die von Aleksej Petrovic; er sieht seine Mutter, seine Umwelt, sich selbst. Seine Eigensicht umfasst einerseits die Sicht der Mutter/der Umwelt auf sich (das spät gekommene Kind, ein Fehlgriff der Natur, ein kranker Mensch, ein Debiler), andererseits seine eigenen Gedanken und Phantasien. Seine Perspektive ist durch seine Krankheit/Behinderung stark eingeschränkt, in sich unzusammenhängend und unlogisch, weil sie keinem Krankheitsbild/Behinderungsgrad zugeordnet werden kann. Gegenüber seiner Mutter ist es die Sicht eines kleinen Kindes, gegenüber den Frauen die eines geistig Behinderten. Dem widerspricht jedoch sein reicher Wortschatz, seine Fähigkeit zu schreiben, was wiederum auf eine psychische Krankheit verweisen könnte. Außer seiner "Mamocka" kennt er keinen Menschen persönlich, sie sind "Ženšciny", "Mušciny" bzw. "baby". Er kann Märchen und Wirklichkeit nicht trennen, so bezeichnet er Frauen auch als "morskaja deva" und "fea".

"Mamočka" erscheint im Text aus der "Froschperspektive" des Sohnes. Diese Sicht wird relativiert durch die Bemerkungen eines außenstehenden Erzählers. Ihr wird keine Innensicht zugebilligt, sie wird zitiert bzw. erscheint mit wörtlicher Rede. Der Erzähler ist schwer zu bestimmen. Es ist unklar, wann die Rede ihm zugeordnet werden kann.

"Reka Okkervil'"

Held der Geschichte ist ein Mann namens Simeonov. Er übersetzt "unnütze Bücher aus seltenen Sprachen". Mitunter bringt es eine Frau mit nach Hause, ist aber jedesmal enttäuscht. Auch seine Freundin Tamara lässt er nur ab und zu und ungern zu sich. Der Text beginnt mit der expressiven Beschreibung eines Novembertages. Simeonov ist allein und geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach: er hört auf dem Grammophon die Lieder einer längst vergessenen Sängerin.

An seinem Haus führt eine Straßenbahnlinien mit der Endhaltestelle "Fluss Okkervil'" entlang. Simeonov will dort nicht hinfahren. Er denkt sich lieber aus, wie es dort aussehen könnte. Seine Vorstellungen werden immer romantischer, entfernen sich immer weiter von der Realität, so dass er schließlich auch die Sängerin dort ansiedelt.

Von einem "Hai" - einem Schallplattenverkäufer - erfährt Simeonov, dass Vera Vasil'evna noch lebt. Er erkundigt sich nach ihrer Adresse und will sie besuchen. Anstelle einer einsamen, hilflosen, zartgebauten Greisin erwartet ihn eine gesunde und dicke ältere Frau in einer Wohnung voller Gäste.

Simeonov kann die von einem der Verehrer gestellten Forderungen - seltene Platten zu besorgen, eine Rundfunksendung zu organisieren - nicht erfüllen, und so wird seine Wohnung dazu auserkoren, dass Vera Vasil'evna hier ein Bad nehmen kann.

In dieser Geschichte wird ein - bei Tat'jana Tolstaja mehrfach anzutreffendes - Motiv gestaltet: die Materialisierung eines Traumes gerät zum Alptraum. Oder anders ausgedrückt: der Held, der der profanen Welt entflieht, wird durch den Versuch, seinem Traumbild zu begegnen, in diese Welt zurückgejagt.

Mit seinen Vorstellungen über die Landschaft am Fluss Okkervil' schafft sich Simeonov seine Welt, in der auch - die junge, schöne - Sängerin Vera Vasil'evna ihren Platz findet. Obwohl sich Simeonov einen Regisseur hinzudenkt, der alles inszeniert hat und nun die Requisiten einsammelt, verselbständigt sich seine Welt, beginnt unabhängig von ihm zu existieren - als Tamara wieder einmal bei Simeonov übernachtet, wendet sich Vera Vasil'evna ab und geht weg. In der Schlussszene, als die dicke alte Frau in seiner Badewanne sitzt, will Simeonov seine Phantasiewelt zerstören, aber es gelingt ihm nicht. Diese verwandelt sich in ein Schreckensbild.

"Milaja Šura"

Die Ich-Erzählerin begegnet einer alten, auffällig gekleideten Frau, besucht diese in ihrer Wohnung, lässt sich von ihren früheren Leben, den drei Ehemännern und dem Geliebten erzählen. Beim nächsten Besuch ist die alte Frau bereits verstorben, ihre Sachen sind auf dem Müll gelandet.

Über die Entstehung der Geschichte sagte Tat'jana Tolstaja in einem Interview:

"In meinem Leben habe ich solch eine Frau nicht kennengelernt. Sie ist ausgedacht. Ein Freund von mir fand auf dem Müll ein Bündel Briefe. Anscheinend war in einer Kommunalwohnung eine alte Frau gestorben, die keine Verwandten und Freunde mehr hatte /.../ die Briefe sahen noch ganz sauber aus. Sie stammten aus den Jahren 1913 und 1914. Und die Frau starb 1970. Das ist doch ein sehr aufschlußreicher Fakt. Die ganze Zeit hat sie diese Briefe aufbewahrt. Sicher gab es in ihrem Leben nichts Wichtigeres. Die Geschichte mit den Briefen ging mir viele Jahre nicht aus dem Kopf, bis ich die Erzählung schrieb. Die Briefe lassen mich auch heute noch nicht in Ruhe." [12]

Der Ich-Erzähler in "Milaja Šura" ist also kein Autor-Erzähler. Und doch verhält er sich auktorial gegenüber der Figur der Aleksandra Ernestovna, er weiß von Anfang an mehr als ein außenstehender Beobachter, zum Beispiel, dass sie hat keine Kinder gehabt hat.

Das Faszinierende an der Geschichte ist der Versuch des Erzählers, mit Hilfe sprachlicher Suggestivkraft, die Vergangenheit zurückzuholen, damit die Frau doch noch ihren Geliebten treffen kann.

Versuch zum Erzähler

In den zahlreichen Kritiken zu Tat'jana Tolstaja wird nicht zwischen Autor und Erzähler unterschieden. Das hängt in erster Linie mit dem ungewöhnlich expressiven Stil zusammen, der die Ebenen des Textes überlagert.

Jedoch kann auch bei dieser Schriftstellerin nicht von einem auktorialen oder Autor-Erzähler gesprochen werden. Das lässt sich deutlich anhand einiger Texte belegen. So gibt es über die Figur der Nina aus "Poet i muza" im gesamten Text keine abwertende Bemerkungen oder negative Einschätzung, obwohl sie zwei Menschen zugrunde richtet: erst ihre scheinbare Nebenbuhlerin, dann ihren Mann. Sonja aus der gleichnamigen Erzählung wird - wie ein Kritiker richtig bemerkte - zugleich überhöht und verlacht. [13] Überhöht wird sie durch ihr Handeln, verlacht durch die Worte.

"Klar ist eines - Sonja war dumm", heißt es im Text. Der Erzähler gibt eine fremde Meinung wieder (die der Figuren) und enthält sich seiner eigenen.

In beiden Fällen kann der Charakter der Heldin nicht aus der Rede des Erzählers entnommen werden, der Leser muss die Einschätzung selbst vornehmen, indem er die Handlungsweise der Figuren beurteilt.

Die Schwierigkeiten bei der Analyse der Erzählweise der Tolstaja resultieren auch aus den Besonderheiten der Erzählperspektive. So sind ihre Texte in Bezug auf die Grenzen der Figurenperspektive in sich "unlogisch".

Dies beginnt beim auktorialen Ich-Erzähler, etwa in "Dorogaja Šura". Hier weiß der Ich-Erzähler weitaus als das, was ihm die Frau erzählt. Ähnliches lässt sich in dem Text "Na zolotom kryl'ce sideli..." beobachten. Es werden Kindheitserinnerungen wiedergegeben, jedoch hat der Erzähler gegenüber den anderen Figuren ein Wissen, dass über seine Perspektive hinausgeht. Hier lässt sich dies aus der Distanz des erzählenden zum erlebenden Ich erklären, in "Dorogaja Šura" ist das Verhalten des Erzählers nicht motiviert, lässt sich aber erklären, weil es sich nicht um einen Autor-Erzähler handelt, da nach den Angaben von Tat'jana Tolstaja Anna Ernestovna eine rein fiktive Figur ist. Insgesamt ist der Erzähler bei der Tolstaja eine "starke Persönlichkeit", der durch sein spezifisches Erzählen allen Figuren seinen Stempel aufdrückt. Figurenrede und Erzählerrede können oft nicht auseinandergehalten werden, weil das Denken und Reflektieren der Figuren (nicht die wörtliche Rede) dem des Erzählers angepasst sind (und nicht umgekehrt, wie es beim auktorialen Erzähler zu beobachten ist [14]). Die "Sprachgewalt" des Erzählers überträgt sich auf die Figuren, was irritiert, wenn es sich Kinder (Petja aus "Svidanie s pticej") oder Kranke (Aleksej Petrovic aus "Noc'") handelt. Hinzu kommt, dass Dialoge oft graphisch nicht gekennzeichnet sind, den Erzählfluss nicht unterbrechen. Ebenso können direkte und indirekte Rede miteinander verflochten sein.

Die Träume und Alpträume, die die Figuren haben, ihre Vorstellungen und Phantasien (besonders deutlich in "Reka Okkervil'", "Peters", Noc'") stellen eine faszinierende, kaum aufzulösende Mischung von Märchenhaftem, Grotesk-Romantischem, "russischem Leben" und Abenteuerlichen dar, wobei sich bestimmte Motive in den Texten wiederholen.

Tolstajas Figuren verfügen alle über viel Phantasie, haben ständig mehr oder weniger (weniger zum Beispiel die Frauengestalten in "Fakir" und "Ogon' i pil'") deutlich ausgeprägte Phantasievorstellungen. Das macht einen Teil des Reizes der Texte aus. Dabei sind die Phantasien nicht immer direkt mit ihnen verbunden, können auch unabhängig von ihnen existieren, vom Erzähler vorgebracht werden (etwa bei Nina in "Poet i muza").

Anmerkungen
[1]A. Marcenko, Gde iskat' ženšcinu? In: Novyj mir, 9/1994, S. 206.
[2]L.Bachnov, celovek so storony, in: Znamja, 7/1988, S. 226-228.- I. Grekova, I. Rastorcitel'nost' talanta, in: Novyj mir, 1/1988, S. 252-254.- P. Spivak, Vo sne i najavu, in: Oktjabr', 2/1988, S. 201-203.- P. Vail', A. Genis, Gorodok v tabakerke. Proza Tat'jany Tolstoj, in: Zvezda, 8/1990, S. 147-150.- A. Vasilevskij, Noci cholodny, in: Družba narodov, 7/1988, S. 256-258 u.a.
[3] T. Tolstaja, Fakir, in: Novyj mir, 1/1986, S. 125.
[4] P. Vail', A. Genis, Gorodok v tabakerke, S. 147.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. etwa die Definition bei M. Heuser, Literatur von Frauen / Frauen in der Literatur. Feministische Ansätze in der Literaturwissenschaft, in: L.F. Pusch, (Hg.) Feminismus. Inspektion der Herrenkultur. Ein Handbuch, Frankf./M. 1983, S. 122.
[7] Vgl. S. Weigel, Die Stimme der Medusa, Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Reinbeck b. Hambug 1989, S. 9.
[8] Vgl. etwa die Aussagen, die Karin Ruppelt zusammengetragen hat. - K. Ruppelt, "Nicht der Mann hat die Frau versklavt, sondern die Gesellschaft den Menschen". Überlegungen zur Prosa Tat'jana Tolstajas, in: F. Göpfert (Hg.), Rußland aus der Feder seiner Frauen, Zum femininen Diskurs in der russischen Literatur. München 1992, S. 190 f.
[9] So erwiderte sie auf eine entsprechende Frage: "Ja, auch wir haben eine Frauenliteratur, Ljudmila Petruševskaja und ich, wir haben einen modernen Stil, das ist nicht nur Prosa, sondern Prosa, die einen neuen Weg sucht." Zit. nach ebd., S. 189.
[10] T. Tolstaja, Poet i muza, in: Novyj mir, 12/1986, S. Dt. Übersetzung: Der Dichter und die Muse. In: Tatjana Tolstaja, Rendezvous mit einem Vogel. Berlin 1989, S. Alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
[11] Vgl. A. Leetz, Gespräch mit Tatjana Tolstaja, in: Sowjetliteratur, 9/1988, S. 103.
[12] Vgl. ebd., S. 103f.
[13] Vgl. P. Spivak, Vo sne i najavu, S. 202.
[14] Vgl. dazu: Die "Absteckung" der Erzählersprache durch die Figurensprache, in: F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens. Göttingen 1991, S. 248 ff.

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