Die Erzähler bei Natal'ja Baranskaja

Person und Schaffen

Natal'ja Baranskaja wurde 1908 geboren. Ihre Eltern waren Berufsrevolutionäre und gehörten den Menschewiki an. [1] In den zwanziger Jahren trennten sich die Eltern endgültig. Natal'ja Baranskaja lebte bei ihrer Mutter. Diese wurde wiederholt verhaftet und verbannt, lebte jahrelang im "freiwilligen" Exil auf der Krim.

Natal'ja Baranskaja studierte Literatur und war in verschiedenen Verlagen tätig. Sie blieb von direkten Repressalien verschont. Während des Krieges war sie mit ihrer Mutter und zwei kleinen Kindern evakuiert, ihr Mann fiel 1943 an der Front.

Nach dem Krieg wurde Natal'ja Baranskaja Aspirantin an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität und arbeitete in einem Literaturmuseum. Sie erlangte nie einen Doktorgrad, veröffentlichte aber Teile ihrer Dissertation.

Ab 1958 war sie stellvertretende Direktorin des Puškin-Museums. Nach Querelen mit dem Direktor und Schwierigkeiten infolge allgemeiner politischer Unangepasstheit gab sie 1966 ihre Arbeit auf.

Erst nach dieser Zeit begann sie zu schreiben. 1967 reichte sie bei der Zeitschrift "Novyj mir" drei Erzählungen ein, von denen der damalige Chefredakteur Tvardovskij zwei ("Provody", "U Nikitskich i na Pljuščiche") auswählte.

1969 erschien in der gleichen Zeitschrift "Nedelja kak nedelja". Die Erzählung hatte eine große Resonanz und löste heftige Diskussionen aus, brachte Natal'ja Baranskaja aber nicht den Zugang zu literarischen Kreisen.

Sie konnte in den Moskauer Zeitschriften "Junost'" und "Zvezda" je eine Erzählung herausbringen, erhielt aber dann nur noch Absagen.

Während ihre Erzählungen in verschiedenen Ländern des westlichen Auslands veröffentlicht wurden (USA, Schweiz, Dänemark, Norwegen, Schweden, Frankreich, Italien, Deutschland) und insbesondere "Nedelja kak nedelja" Aufmerksamkeit erregte, konnte sie in der Sowjetunion nur noch in der Irkutsker Zeitschrift "Sibir'" publizieren.

Ihr erster Erzählungsband erschien 1977, nachdem das "Durchbringen" des Manuskriptes fünf Jahre gedauert hatte.

Der 1976 eingereichte zweite Band ("Ženščina s zontikom") "verschwand" im Dschungel der Verlagszensur, erschien aber dann 1981 nach einer Eingabe Natal'ja Baranskajas bei ZK der KPdSU. 1982 gelang die Veröffentlichung des dem russischen Dichter Puškin gewidmeten Bandes "Portret, podarennomu drugu".

Der 1984 dem Verlag übergebene Roman "Den' pominovenija" über das Schicksal von Kriegswitwen wurde nach großen Querelen erst 1989 gedruckt.

Zu dieser Zeit gab Natal'ja Baranskaja ihr Schaffen mit dreißig Erzählungen, sechs Povesti ("Nedelja kak nedelja", "Ljubka", "Cvet temnogo medu", "Avtobus s černoj polosoj" u.a.) und einem Roman ("Den' pominovanija") an. Für sie charakteristisch sind also kürzere Texte (zumeist zwischen acht und zwölf Seiten). Die Handlung umfasst oft nur wenige Stunden, greift eine Episode aus dem Leben der Helden - die immer in der Stadt leben - heraus. Wenn es nicht um Partnerbeziehungen geht, dominiert eine Figur.

Natal'ja Baranskaja schreibt über Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters und Lebenslagen. Jedoch sind in immerhin neun von zwanzig bisher analysierten Texten die Heldinnen ältere Frauen, von denen sieben verwitwet oder geschieden, vier sogar völlig alleinstehend sind ("Pis'mo", "Provody", "Ženščina s zontikom", "Podselenka i koška"), die anderen müssen sich allein um ihre Familie kümmern ("Kraj sveta", "Poceluj", "Delikatnyj razgovor") oder sind kinderlos geblieben ("Devocka u morja"). Nur die Estin Lajne hat Mann und Kinder ("Dom Lajne").

Natal'ja Baranskaja schreibt auch über Jugendliche und junge Leute sowie Menschen, die sich in einer Umbruchssituation befinden, weil die Kinder erwachsen sind und das elterliche Haus verlassen haben. Hier interessieren sie vor allem Probleme der Partnerschaft. Es gibt einige wenige Geschichten mit Happy-End, die das Suchen und Finden der Partner zeigen ("Koldovstvo", "Cernyš i drugie"), überwiegend geht es um Probleme des ehelichen Zusammenlebens, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ("Nedelja kak nedelja", "Partnery") oder um die Widersprüche in den Lebensvorstellungen ("Pantelejmon, Pantelejmone"). In zwei Texten ("Molodoj veselyj foks", "Tichaja noč' v Roosne") stehen männliche Figuren im Mittelpunkt, deren Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, dass sie zu Entscheidungen, die ihr Leben verändern könnten, nicht fähig sind. Jedoch scheint es mir nicht gerechtfertigt, von einen "essentiell gestörten Verhältnis zwischen den Geschlechtern" zu sprechen [2], nicht nur, weil der Ausgangspunkt der Beziehungen immer Liebe ist, sondern weil das Episodische der Handlung und die offenen Erzählschlüsse eine solche entschiedene Einschätzung nicht zulassen.

Viele Erzählungen von Natal'ja Baranskaja sind von der Grundstimmung her melancholisch, ja traurig, egal, ob die Protagonistinnen jung ("Otricatel'nyj Žizel'") oder in der Mehrzahl der Fälle älter sind. Zugleich hat die Baranskaja eine Vorliebe für anekdotenhafte Wendungen im Handlungsverlauf ("Pervocvet", "Košelek").

Es gibt bei Natal'ja Baranskaja sowohl Texte mit eindeutig gesellschaftskritischer Tendenz, aber auch solche, in denen das gesellschaftliche Moment völlig ausgeklammert bleibt. Letzteres gilt insbesondere für Texte mit "Happy End" und solche mit anekdotenhaften Wendungen.

Die Texte sind eindeutig der realistischen Literatur zuzuordnen: sie sind wirklichkeitsabbildend, verallgemeinernd, sinngebend. In einigen Texten setzt sich die Autorin kritisch mit der sowjetischen Wirklichkeit der sechziger und siebziger Jahre auseinander. Das gesellschaftskritische Element ergibt sich jedoch aus der Handlung und dem Verhalten der Figuren, Natal'ja Baranskaja verzichtet in der Regel auf auktoriale Einschübe und Kommentare.

Auf die Vermischung von neutralem und personalen Erzählen sowie die Besonderheiten der Erzählweise, die zu einer kritischen Sicht auf das Dargestellte führen, soll im Folgenden näher eingegangen werden.

"Pis'mo"

Dieser Text ("Der Brief") gehört zu den frühesten Erzählungen Natal'ja Baranskajas, wurde aber erstmals 1992 in dem Band "Literarischer Dialog", einer Festschrift für Wolfgang Kasack, abgedruckt. In dem Faksimile einer handschriftlichen Notiz von Natal'ja Baranskaja heißt es dazu:

"Das ist eine meiner ersten Erzählungen. Sie wurde mit zwei anderen zu 'Novyj mir' gebracht, Tvardovskij lehnte sie ab - 'das kommt nicht durch'. In einer anderen Zeitschrift sagte man: '... das wird man nie drucken'. Aus dem Sammelband von 1981 wurde sie ohne Begründung herausgenommen.
Weiter habe ich sie niemandem gezeigt..." [3]

Was war es, was den kurzen, weniger als drei Seiten umfassenden Text unannehmbar machte?

Die erzählte Episode ist schnell wiedergegeben: eine alte, bettlägerige Frau wird von drei Männer vom Wahlvorstand aufgesucht, die ihr die Wahlurne bringen, damit sie ihrer Pflicht genügen kann. Sie aber begreift nichts mehr und glaubt, sie habe einen Brief an ihren Sohn geschickt. Der jedoch ist - wie die Nachbarin den Männern erklärt - im Krieg gefallen.

Sicher war schon die Darstellung einer "dunklen" Seite des Lebens - des Siechtums einer einsamen alten Frau - Grund genug, die Erzählung mit Misstrauen zu betrachten. Vor allem aber die sich aus der Geschichte ergebene Sinnlosigkeit des Wahlvorgangs wirkt subversiv und wird durch ein spezifisches Erzählen noch verstärkt.

Wie bereits erwähnt, wählt Natal'ja Baranskaja häufig als Protagonistinnen ältere, alleinstehende Frauen. Im Unterschied aber zu der Figur der Anna Vasil'evna aus "Provody" oder der Elizaveta Nikolaevna aus "Kraj sveta" hat die Frau keinen Namen mehr. Dieser existiert nur noch als abzuhakende Spalte auf der Wählerliste. Im Text ist nur von der "Alten" ("starucha") die Rede, zumeist wird lediglich das Personalpronomen gebraucht. Das schafft Distanz und ermöglicht eine gewisse Verallgemeinerung. Ergänzt wird dieses Verfahren durch weitere Leerstellen - der Leser erfährt nicht, wie die Frau vor ihrer Krankheit gelebt, ob sie einen Beruf gehabt hat usw. - all das existiert nicht mehr für sie.

Neben der Namenlosigkeit der Heldin und ihrer auf das Gegenwärtige beschränkten Existenz sind es die Erzählperspektive und der Wechsel der Sicht, die bestimmte Wirkungen hervorrufen.

Der Text beginnt mit einer neutralen Beschreibung, die die Ausgangssituation verdeutlicht. Die alte Frau wird von außen gesehen, ebenso ihre Nachbarin, die als Tante Dusja eingeführt wird, und die drei Männer ins Zimmer führt. "Sie strich die Bettdecke glatt und rückte einen Stuhl zurecht, um ihre Achtung vor den Gästen zu zeigen." [4]

Der Erzähler begründet die Handlung von Tante Dusja und zeigt damit seinen situationsadäquaten Status an, was im Gegensatz zu dem folgenden Absatz steht.

"Drei Männer im Mantel, die ihre Mützen abgenommen hatten, betraten das Zimmer. Der Älteste, mit über die Glatze gekämmten dunklen Haaren, trug einen kleinen Holzkasten, der aussah wie die Briefkästen an den Eingangstüren. Der andere, ein wenig jünger, hielt in der einen Hand eine lange Liste und in der anderen einen Bleistift. Der dritte, ein sehr junger, blonder und rotwangiger, preßte eine mit Schleifen zusammengebundene Mappe an seine Brust."

Erst in den darauffolgenden Sätzen, als jeder der drei Männer die ihm im Wahlritual zugewiesene Floskel aufsagt, wird deutlich, worum es sich handelt.

"Der Älteste trat ans Bett und sagte laut und deutlich, wie man zu Schwerhörigen spricht:

'Guten Tag, wir sind vom Wahlbezirk. Wir sind mit der Urne zu Ihnen gekommen.'
'Heißen Sie Ossipowa mit Familiennamen?' fragte der andere. 'Warwara Nikolajewna?' und machte, ohne die Antwort abzuwarten, ein Häkchen in der Liste
'Bitte wählen Sie, Warwara Nikolajewna', sagte der erste, "Jura, gib der Wählerin den Wahlzettel.' [...]
Der junge Mann ... band lange und umständlich die Mappe auf.
'Hier, bitte', sagte er mit etwas heiserer Stimme und hielt ihr ein blaues Blatt hin."

"Holzkasten" für Wahlurne, "lange Liste" für Wählerverzeichnis, "blaues Blatt" für Wahlschein - die Gegenstände werden nicht erkannt. Auf die Wirkung einer solchen verfremdenden Darstellung hat bereits Viktor Šklovskij hingewiesen und dies anhand von Texten von Lev Tolstoj erläutert. In seinem Aufsatz "Iskusstvo kak priem" ("Kunst als Verfahren") schreibt er:

"Das Verfahren der Verfremdung bei L. Tolstoj besteht darin, dass er ein Ding nicht mit seinem Namen nennt, sondern es beschreibt, als zum ersten Mal gesehen und einen Vorfall als zum ersten Mal passiert..." [5]

Tolstoj verwendet diese künstlerische Möglichkeit, um seine kritische Haltung zu einer Sache zum Ausdruck zu bringen. So nutzte er nach Auffassung Šklovskijs - als er sich mit der orthodoxen Kirche auseinander setzte - in dem Roman "Voskresenie" bei der Beschreibung eines Gefängnisgottesdienstes die Methode der Verfremdung.

"... Tolstoj bezweifelte Dogmas und Bräuche und verwendete zu ihrer Beschreibung ebenfalls die Methode der Verfremdung, indem er anstelle der gewohnten Worte des religiösen Gebrauchs deren normale Bedeutung setzte, heraus kam etwas Seltsames, Schreckliches..." (Hervorhebung von mir - B. J.) [6]

Der Erzähler in der Kurzgeschichte "Pis'mo" kennt die "gewohnten Worte des religiösen Gebrauchs" - Wahlurne, Wählerverzeichnis, Wahlschein - nicht, sondern sieht diese in ihrer "normalen Bedeutung" als Holzkasten, Liste und Zettel. Seine scheinbare Naivität ruft eine eindeutige Distanz hervor, wobei diese Sicht auch nach der Identifizierung der Dinge beibehalten wird. Weil es keine wirklichen Wahlen sind, ist der Wahlschein eben nichts anderes als ein blaues Blatt. Während jedoch Tolstoj nach der Szene des Gefängnisgottesdienstes den Kommentar eines auktorialen Erzählers bringt, fehlt dieser im Text der Baranskaja.

Die naive Sicht des Erzählers wird ergänzt durch die verzerrte Perspektive der alten Frau, ihr Nicht-Verstehen. Schon der Titel "Der Brief" verweist ja auf Sicht der Frau, denn in ihren Augen verwandelt sich der Zettel in einen Brief, den sie in einen Briefkasten wirft.

Während im ersten Teil des Textes neutrales Erzählen vorherrscht, dominiert im zweiten Figurenperspektive, verstärkt durch erlebte Rede. Das Zimmer wird jetzt aus der Sicht der alten Frau gesehen, die nur ungenau die Umrisse erkennen kann. Die Männer erscheinen als "verschwommene Figuren", und die alte Frau empfindet sie als Bedrohung, weil sie Angst hat, dass sie sie ins Krankenhaus bringen könnten. Ihre Sinne verwirren sich, sie träumt, dass sie in der Kirche ist, wo eine Totenmesse für sie abgehalten wird. Schließlich glaubt sie, sie schicke einen Brief an ihren Sohn. Sie hofft, dass er sie noch einmal besuchen wird, damit sie dann in Ruhe sterben kann. Dazwischen steht wieder die Perspektive des außenstehenden Erzählers.

"Das Kinn der Alten zitterte, und sie hauchte ein Wort. Aber die Besucher verstanden es nicht und nahmen an, dass sie ihnen dankte.
'Wir haben Ihnen zu danken', sagte erfreut der Mann mit den glattgekämmten Haaren. 'Alles Gute, werden Sie gesund!'
'Gute Besserung!', wiederholte der andere.
Sie hatten es eilig, stießen in der Tür sogar zusammen.
'Ja-a-a', sagte vieldeutig der Mann mit der Liste, während er im Vorzimmer die Mütze aufsetzte.
'In der Tat', echote der andere.
Der jüngste schüttelte schweigend den Kopf."

Die Männer können mit der Situation nicht angemessen umgehen. Ihr herausragendes Merkmal ist ihre Sprachlosigkeit. Sie sind lediglich zu unangebrachten Floskeln imstande, ihre Erschütterung können sie nicht verbalisieren. Hier ist der Erzähler zwar zu Erklärungen fähig (Die Männer nahmen an, dass die Frau ihnen dankte. Der Mann mit der Liste sagte vieldeutig ... u.a.), gibt aber keine eigentlichen Kommentare zum Geschehen ab.

Die männlichen Figuren werden nur von außen gesehen, beobachtet. Beschrieben werden zum Beispiel die Gesten des jungen Mannes, die Unbehagen und Hilflosigkeit ausdrücken. (Er presst die mit Schleifen zusammengebundene Mappe an seine Brust, bindet sie dann lange und umständlich auf, schüttelt schließlich schweigend den Kopf.

Betont werden muss, dass die Wirkung der Geschichte zunächst einmal auf dem erzählten Geschehen beruht. Wird die Wahlpflicht ausgerechnet an einer sterbenskranken, urteilsunfähigen alten Frau zelebriert, kann der "Sinn" der Erzählung nur darin bestehen, den "Sinn" solcher Wahlen in Frage zu stellen. Keine Frage also, warum Tvardovskij nicht einmal den Versuch unternahm, die Geschichte "durchzubringen".

Jedoch fällt im gesamten Text kein einziges kritisches Wort dem Geschehen oder den Figuren gegenüber. Das Für-Sich-Sprechen von Handlung und Figuren wird - wie bereits erläutert - durch ein besonderes Verhalten des Erzählers verstärkt.

Verallgemeinernd könnte man sagen, dass kein auktoriales Erzählverhalten vorliegt, da der Erzähler auf Kommentare und Einschübe verzichtet. Diese Einstellung wird sehr deutlich durch die Figur der Tante Dusja: Indem sie den Männern sagt, was mit der alten Frau los ist, ergibt sich eine andere Erzählhaltung, als wenn dies der Erzähler auf "direktem Wege" verkünden würde.

Deutlich wird im Text auch der Wechsel zwischen beobachtendem Darstellen und Figurenperspektive, also zwischen neutralem und personalem Erzählverhalten. Dabei ist die Sicht der alten Frau deutlich situationsdefizitär. [7] Aber auch das nicht figurengebundene und nicht mit Kommentaren versetzte Erzählen - so die Charakteristik des neutralen Erzählverhaltens bei Petersen - ist nur dann wirklich neutral, wenn es um die Darlegung der Ausgangssituation oder den notwendigen Fortgang der Handlung geht. Wie gezeigt wurde, nimmt er zum Teil auch eine naive, ebenfalls situationsdefizitäre Haltung ein. Auch die männlichen Figuren verstehen die Situation falsch. Hinzu kommt bei ihnen, dass sie nur von außen gesehen werden, was im deutlichen Gegensatz zu der Gestaltung von Innensicht bei der Figur der alten Frau steht.

F.K. Stanzel, dessen Typenkreis nicht auf den Text angewandt werden kann, weil er neutrales Erzählen überhaupt nicht berücksichtigt, schreibt dazu:

"... durch die Verteilung der Innensicht-Darstellung auf die einzelnen Charaktere und ihre relative Häufigkeit bei einer bestimmten Figur kann sich eine deutliche Verlagerung der Lesersympathien zu der durch Innenweltdarstellung bevorzugten Figur ergeben."

Über die Wirkung der Geschichte unter den Bedingungen der Perestrojka schreibt Natal'ja Baranskaja:

"Und jetzt, wo man bei uns wählt, und nicht nur abstimmt, würde man die Erzählung wahrscheinlich ablehnen, weil sie veraltet sei. 'Thema' und 'Problematik' bleiben bei uns weiterhin Maßstäbe für den Wertgehalt in der Literatur. Doch die Erzählung zeigt etwas ganz anderes: Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Unmenschlichkeit." [10]

Tatsächlich ist die konkrete Kritik gut zu erkennen. Sie ergibt sich aus der Handlung und dem Verhalten der Figuren und wird verstärkt durch die Widersprüche zwischen der jeweils inadäquaten Sehweise der alten Frau auf der einen und der Männer auf der anderen Seite, ergänzt durch den beobachtenden und sich naiv stellenden Erzähler. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, begründet auf die Namenlosigkeit der Heldin, der verfremdeten Darstellung des Wahlaktes u.a., erschließt sich möglicherweise nicht sofort.

"Provody"

Die Erzählung "Provody" ("Die Abschiedsfeier") entstand etwa zur gleichen Zeit wie "Pis'mo". Sie erschien erstmals 1968 in der Zeitschrift "Novyj mir" und berichtet über die achtundfünfzigjährige Buchhalterin Anna Kosova, die in Rente geht. Ihr zu Ehren findet die Abschiedsfeier statt, auf der neben ihren Kollegen auch der Direktor des Kombinates und die Gewerkschaftsvorsitzende anwesend sind, die herzliche Worte sprechen.

Im Verlauf der Geschichte stellt sich jedoch heraus, dass Anna nicht freiwillig in den Ruhestand gegangen ist.

Der Direktor hatte trotz der Einwände des Hauptbuchhalters Suskov angeordnet, dass eine der Frauen aus der Buchhaltung, die im Rentenalter ist, aufhören muss. Er beauftragt die Gewerkschaftsvorsitzende, das zu erledigen. Diese droht der Kosova und bringt sie dazu, den Rentenantrag zu schreiben.

Im Grunde genommen besteht keine Notwendigkeit, Anna zu entlassen. Nicht nur, dass sie gut arbeitet, wie sich zeigt, gibt es auch keinen Ersatz für sie.

Anna wehrt sich nicht, obwohl die Rente nicht nur einen finanziellen Verlust für sie bedeutet. Sie ist alleinstehend - ihr Mann ist im Krieg gefallen, Kinder hat sie nicht - die Arbeit und das Zusammensein mit den Kollegen waren ihr Freude und Trost zugleich.

Aber sie spricht das nicht aus, auch Suskov, der sie behalten will, nennt die wahren Gründe nicht. So haben sie den Argumenten des Direktors nichts entgegenzusetzen.

Anna denkt darüber nach, wie ihr Leben weitergehen soll. Sie weiß es nicht. Die Geschichte endet mit dem nun völlig nutzlos gewordenen Klingeln des Weckers.

Die kritische Tendenz des Textes wird sehr deutlich, obwohl (oder gerade weil) das Geschehen an keiner Stelle kommentiert wird. Die Wirkung resultiert wiederum aus der Handlung und dem Verhalten der Figuren, was diesmal durch eine spezifische Handlungsstruktur des Textes ergänzt wird. Letzteres bedingt auch ein anderes Verhalten des Erzählers als in "Pis'mo".

Die eigentliche Handlung, die chronologisch erzählt wird, umfasst nur wenige Stunden: die Zeit von der Abschiedsfeier am Nachmittag bis zum Klingeln des Weckers am kommenden Morgen. Darin eingeschoben aber sind die Erinnerungen Annas an ihr Gespräch mit der Gewerkschaftsvorsitzenden und das Gespräch zwischen dem Direktor und dem Hauptbuchhalter Suskov.

Der Text ist in fünf, etwa gleichlange Abschnitte untergliedert: [1] die eigentliche Abschiedsfeier, [2] Anna auf dem Weg nach Hause (ihre Erinnerung an das Gespräch mit der Gewerkschaftsvorsitzenden), [3] ihre Kollegen Suskov, Charitonova und Lelka auf dem Weg nach Hause (die junge Lelka denkt an ihre Familie), [4] Suskov auf dem Weg nach Hause (Erinnerung an das Gespräch mit dem Direktor), [5] Anna zu Hause (ihr Grübeln in der Nacht, das Erwachen am nächsten Morgen). Diese Gliederung ist auch graphisch erkennbar.

In der ersten Szene wird nur Anna individualisiert und Einblick gewährt in ihre Gedanken und Gefühle. Im dritten Abschnitt gibt es einen inneren Monolog der jungen, lebensfrohen Lelka (der in seiner Ausführlichkeit nicht recht in die Geschichte hineinpasst, andererseits aber zur gleichmäßigen Länge der Abschnitte beiträgt), im vierten Abschnitt kommen auch die Gedanken und Gefühle des Hauptbuchhalters zum Ausdruck. Der zweite und fünfte Abschnitt sind Anna vorbehalten.

Der Text ist also deutlich strukturiert. Gerade so entsteht die kritische Wirkung des Textes. Indem die Folgen vor den Ursachen genannt werden, wird dem äußeren Geschehen nachträglich eine andere Bedeutung verliehen: die Feier erweist sich als Farce, die herzlichen Worte als verlogen. Hinzu kommt die Haltung des Erzählers zu den Figuren, die die Sympathie des Lesers lenkt. Das wird bereits zu Beginn des Textes deutlich:

"Die Abschiedsfeier fand im Saale statt. Der schmale Saal war fast leer. Etwa zwei Dutzend Leute saßen in den vorderen Reihen, drei auf der Bühne. Die Bühne war durch drei bogenförmig gespannte rote Tücher mit Losungen aus weißen Buchstaben vom Saal abgetrennt. Unter einem Bogen stand ein Tisch mit Samtdecke, Wasserkaraffe und mit einer blaßroten Hortensie. Am Tisch saßen: ein breitschultriger Mann mit gutmütigem Gesicht, der Direktor, und eine schwammige junge Frau im grellgrünem Pullover, die Gewerkschaftsvorsitzende. Ein Stück entfernt saß auf einem alten Schreibtischsessel eine hagere unansehnliche Frau mit tief eingefallenen Augen und einer dünnen Dauerwellkrone über der gewölbten Stirn. Sie saß reglos und aufrecht, ihre dürren Finger knüllten ein Taschentuch.

Anna Wassiljewna Kossowa ging in Rente. Gekommen waren die ganze Buchhaltung und außerdem noch einige der ältesten Mitarbeiter des Kombinates - wer sie eben kannte. Sie war still und schweigsam, hatte sich fast zwanzig Jahre über Rundschreiben, Rechnungen und Rechenbrett gebeugt. Es waren nicht viele, die sie kannten.

Als erste sprach die Gewerkschaftsvorsitzende. Sie sagte, die Kollegin Kossowa sei eine der ältesten Mitarbeiterinnen des Kombinates, sie habe sich stets durch gute Disziplin ausgezeichnet, sei niemals zu spät gekommen, auch nie gemaßregelt worden, sondern habe im Gegenteil zweimal lobende Anerkennung gefunden..." [11]

Der erste Absatz dient der Beschreibung des Handlungsortes und wichtiger Personen. Die Sätze, mit denen der Saal beschrieben wird, sind kurz und "schmucklos". Es wird benannt, dokumentiert. Man kann die Beschreibung des Saales ebenfalls als Verfremdung auffassen, da anstelle des Wesens (der Text der Losung) übergenau die Erscheinungsform (drei bogenförmig gespannte rote Tücher mit Losungen aus weißen Buchstaben) beschrieben wird. [12]

Dann werden der Direktor und die Gewerkschaftsvorsitzende vorgestellt, beide nicht mit Namen, sondern mit ihren Funktionsbezeichnungen und kurzer Beschreibung ihres Äußeren.

Die Frau, um deren Abschied es geht, wird hingegen bei ihrem vollen Namen genannt und wesentlich genauer beschrieben: das Äußere, ihr Verhalten (bewegungslos, ein Taschentuch knüllend), ihr Charakter (ruhig, schweigsam), das Verhältnis der anderen zu ihr (kaum jemand, der sie kannte).

Die "Ansprache" der Gewerkschaftsvorsitzenden wird in indirekter Rede wiedergegeben, und zwar nicht in vollständigen Sätzen, sondern in durch Kommas aneinandergereihten Ellipsen. Dadurch wird das Klischeehafte, Nichtssagende der Worte betont.

Der Direktor verspricht, etwas über die Kosova "als Mensch" zu sagen. Ihre menschliche Qualität besteht seiner Meinung nach darin, dass die Direktoren wechseln, die Buchhalter aber bleiben.

Nun sagt er, dass es ihnen schwerfällt, sich von einem solchen Menschen zu trennen. Dieser Satz erhält beim Neu-Lesen ein anderes Gewicht, wenn man weiß, dass der Direktor es selbst angeordnet hat, die Kosova in Rente zu schicken.

Aufschlussreich ist auch das Gespräch Annas mit der Gewerkschaftsvorsitzenden. Diese sagt "Genossin Kosova" zu ihr, was den streng offiziellen Charakter des Gespräches betont. Anna duzt sie, ein Recht, das ihr als Älterer zusteht und womit sie zugleich versucht, eine kollegiale Gesprächsform zu erreichen.

Es werden zwei unterschiedliche Maßstäbe angelegt: das Alter gegen die Qualität der Arbeit. Jedoch gilt die Qualität nichts gegen die festgelegte Norm des Rentenalters. Die Rožnova droht Anna mit dem Direktor, worauf diese sofort nachgibt.

Im Gespräch des Buchhalters mit dem Direktor zeigt sich, dass für diesen von vornherein feststeht, was er erreichen will, und er ist den Argumenten des Buchhalters nicht zugänglich. Was er sich vorgenommen hat, setzt er durch.

Der Buchhalter ist ebenfalls im Rentenalter und herzkrank. Er kann nicht in Rente gehen, und sein Antrag auf unbezahlten Zusatzurlaub wird nicht bewilligt. Auch in seinem Fall zeigt sich, dass der Direktor unmenschlich handelt.

Das Handeln des Direktors und der Gewerkschaftsvorsitzenden, ihr Umgang mit den Menschen sprechen für sich. Beide ähneln sich darin, dass sie mit aller Macht ihre Interessen durchsetzen und beim geringsten Widerstand gegen ihre Anordnungen nervös und ungehalten reagieren. Neben dieser direkten Beschreibung wird ihre Charakteristik durch weitere Besonderheiten des Textes ergänzt. Durch die Struktur des Textes, die die Folgen vor den Ursachen nennt, werden sie der Heuchelei überführt. Hinzu kommen Besonderheiten der Namensgebung. Beide Figuren haben Namen, die auch im Text genannt werden, aber sie werden zumeist mit ihrer Funktion bezeichnet. Beispielgebend dafür ist das Gespräch zwischen dem Direktor und dem Hauptbuchhalter. In dieser Szene erscheint der Name des Direktors, Šavrov. Jedoch wird er nur dreimal so genannt, dafür aber achtmal (und an weiteren Stellen im Text) als "Direktor" bezeichnet. Vor- und Vatersname, Pavel Romanovic, werden nur einmal vom Buchhalter zu Beginn des Gespräches erwähnt, während dieser in der Mehrzahl der Fälle (elf zu zwei, dazu fünfmal Anrede) mit seinem Vor- und Vatersnamen Jakov Moiseevic erscheint.

Die Analyse des Textes zeigt, wie ausführlich auf die innere Situation Annas eingegangen wird. Auch das Gefühl der Ohnmacht, das Suskov befällt (er macht sich Vorwürfe, dass er die Entlassung Annas nicht verhindert hat), wird deutlich artikuliert.

Dem Direktor und der Gewerkschaftsvorsitzenden aber wird diese Innensicht verweigert. Es wurde schon in der Analyse zu "Pis'mo" darauf hingewiesen, dass dies negative Auswirkungen für die Sympathielenkung hat, insbesondere im Vergleich zu den Figuren von Anna und Suskov.

Insgesamt bewirkt die Struktur von "Provody" einen anderen Erzähler als in "Pis'mo". Es gibt keine situationsdefizitäre Sicht. Charakteristisch ist der Wechsel zwischen szenischer Gestaltung (Beschreibungen, Dialoge mit kurzen "Regieanweisungen") und Abschnitten mit erlebter Rede und inneren Monologen der Figuren. Es kann also von neutralem und personalen Erzählverhalten gesprochen werden. Da der Erzähler das Geschehen und das Verhalten nicht kommentiert, erfolgt die Leserlenkung auf andere, zuvor beschriebene Weise. "Kraj sveta"

"Das Ende der Welt" ist wahrscheinlich die traurigste und zugleich poetischste Geschichte des Bandes "Ženšcina s zontikom". Sie besteht aus zwei Ebenen: der realen und der phantastischen. Es wird versucht, das "Jenseits" zu beschreiben, welches als "Ende der Welt" erscheint.

Wie schon in "Provody" nimmt der erste Satz Bezug auf den Titel. Es wird gesagt, dass es nur ein Ende der Welt gegeben haben kann, als die Menschen glaubten, dass die Welt eine Scheibe sei. So erscheint "ujti na kraj sveta" ("an das Ende der Welt gehen") zunächst als Metapher für Ruhe und Entspannung. Aber der stille Ort erweist sich als Tod.

Den Wunsch, ans Ende der Welt zu gehen, verspürt die Rentnerin Elizaveta Nikolaevna. Sie betreut die Zwillinge ihrer unverheirateten Tochter. Mit den Gedanken ist sie auch immer bei ihren zwei Söhnen und den vier Schwiegertöchtern, denn beide Söhne sind geschieden und haben wieder geheiratet. Nachts

"kam Elizaveta Nikolaevna zu dem Schluß, sie gehöre zu den Unglücklichen. Sie konnte nichts oder fast nichts ändern an alldem, was sie bedrückte oder aufregte. Und da erwachte erstmals in ihr der Wunsch, ans Ende der Welt zu gehen ... Mag sein sie wäre dennoch nicht aufgebrochen. Doch zuweilen ist die geringste Kleinigkeit ausschlaggebend für einen Menschen, und sei er noch so unentschlossen. Und das geschieht ganz plötzlich." [13]

Elizaveta Nikolaevna meint das "ans Ende der Welt gehen" wörtlich, sie stellt sich vor, wie sie "mit Bündel und Wanderstock die betonierte Ringstraße überschreitet". Bei ihrem plötzlich eintretenden Tod wird sie einfach empor gerissen, denn im "Raketenzeitalter" braucht man nicht mehr zu laufen. "Am Ende der Welt" findet sie zwar Ruhe und Entspannung, aber sie erkennt bald, dass es durchaus nicht so schön hier war, um sich hierher zu sehnen. Denn die Ruhe wird mit dem Verlust des Gedächtnisses erkauft. Elizaveta Nikolaevna kann sich nicht mehr daran erinnern, was sie "dort" zurückgelassen hat, und das macht sie traurig. So heißt es dann: "Am Ende der Welt war es sehr ruhig. Still. Ganz still. Und traurig."

Der insgesamt schwermütige Ton der Erzählung wird gemildert durch gelegentliche ironische Einschübe, die nicht eindeutig der Figur der Elizaveta Nikolaevna oder dem Erzähler zugeordnet werden können.

"... im Alter treten bei uns vielerlei Schwächen zutage ..."
"... in der Tat, wozu brauchen wir noch Wanderstab und Bündel in unserem Raketenzeitalter. Wir sind ja so weit vorangekommen!"

Bemerkenswert ist jedoch die Sicht der Elizaveta Nikolaevna auf sich selbst: es ist ihr nämlich peinlich, sich einzugestehen, dass sie nicht glücklich ist.

"Ich gehöre vielleicht zu den Pechvögeln, dachte sie, wie um sich zu rechtfertigen. Von Leuten, die es wissen mußten, hatte sie erfahren, dass es heutzutage weniger Pechvögel gab als früher. Aber naja, ein paar waren übriggeblieben, und zu denen gehörte sie."

Als Ursache für ihr Unglück wird zunächst der Verlust ihres Mannes, der im Krieg gefallen ist, genannt. Dann aber zeigt sich, dass der eigentliche Grund im Verhalten ihrer Kinder liegt, die keine Zeit mehr für sie haben. Elizaveta Nikolaevna glaubt nämlich, dass die Granate, die ihren Mann getötet hatte, auch sie mit einem Splitter gestreift hatte, der nun nach vielen Jahren zu einem sichtbaren Riss geworden ist und sucht Trost bei ihren Kindern.

"Sie jedenfalls sah ihn, wenn sie in den Spiegel schaute.

Ihre Söhne und die Tochter versicherten, da wäre durchaus kein Riß. Sie hatten keine Zeit, genauer hinzuschauen." - (Hervorhebung von mir - B.J.)

Auch nach dem Tod der Mutter ändert sich nichts. Zwar kommen alle - wie es sich gehört - zur Gedenkfeier zusammen, aber ein wirkliches Gedenken kommt nicht zustande. Der ältere Sohn vermag über seine Mutter lediglich zu sagen, dass sie ein bemerkenswerter Mensch war, der immer ehrlich gearbeitet hat, der jüngere bringt kaum einen zusammenhängenden Satz heraus.

"'Ja, unsere Oma war ein Mensch!' rief er aus. "Gott gebe, dass wir alle..." Er seufzte, als zweifele er, ob es ihnen gelänge. "Wir oder die, die nach uns kommen..." Und mit einem Blick rund um den Tisch schloß er: 'Gebt euch Mühe, Kinder!'"

Zu dieser Sprechweise der Figuren äußerte Natal'ja Baranskaja:

"...diese Worte drücken nicht etwa Herzlosigkeit aus, sondern sie sind Ausdruck der Unfähigkeit vieler Menschen, gerade der einfacheren, sich zu artikulieren. Die Sprache des Radios, des Fernsehens und die der üblichen Ansprachen auf Versammlungen ist immer so offiziell. Das ist es, was die Leute jeden Tag hören. Diese Sprache wird den Menschen geradezu eingeimpft, sie sind von ihr im innersten geprägt. Diese Sprache zerstört in hohem Maße den eigenen kreativen Umgang mit Sprache." [14]

In diesem Text weiß der Erzähler mehr über die Hauptfigur als diese selbst. In "Kraj sveta" wird dies deutlich an der Vorausschau auf den Tod der Heldin. Alle anderen Figuren aber werden aus der Perspektive der Elizaveta Nikolaevna gesehen. Man weiß über sie nur so viel wie diese, erfährt zum Beispiel nichts über die Motive der Tochter, die Ursachen für die späte Heimkehr sowie ihre Grantigkeit, die in letzter Konsequenz zum Tod der Mutter führt.

Danach ist wie schon in "Pis'mo" ein beobachtender Erzähler zu finden, der sich jeglicher wertender Kommentare enthält.

Die Figurenperspektive wird durch die Namensgebung unterstützt. Die Hauptfigur wird stets achtungsvoll mit Vor- und Vatersnamen genannt, ihre Kinder haben jedoch keine Namen, es ist immer nur von der Tochter, dem älteren Sohn, dem jüngeren Sohn, der ersten Frau des älteren Sohnes usw. die Rede. Von den Enkel werden nur die bei der Großmutter lebenden mit Namen identifiziert.

"Ženščina s zontikom"

In diesem Text ("Die Frau mit dem Schirm") erscheint als Protagonistin erneut eine alleinstehende ältere Frau. Aber wiederum ist der Text anders strukturiert Zu den bekannten Erzählverfahren treten neue. Wie "Pis'mo" und "Kraj sveta" verweist auch der Titel auf die Perspektive von Figuren. Im vorliegenden Text allerdings wird die Titelfigur überwiegend von außen betrachtet, in der unterschiedlichen Wertung durch die anderen Figuren. Nur zu einem Fünftel bezieht sich der Text direkt auf die Frau, ist von ihren Gefühlen und Erinnerungen die Rede, wird das erzählt, was den anderen verborgen ist und bleibt.

Ort der Handlung ist eine kleine estnische Kurstadt, in der sich eine Gruppe von Menschen zusammengefunden hat, die ihren Urlaub gemeinsam verbringen. Dazu gehören: Professor Djušin, seine junge Frau, von ihm ironisch nach seinem Familiennamen Djušenka genannt, das Dozentenehepaar Rybak, der Aspirant der "Fischerin", Igor, und die Studentin Ira, die von ihm in den Kreis eingeführt wird. Die Urlauber beobachten eine Frau:

"Den Uferweg entlang schritt langsam eine hochgewachsenene hagere Frau in weißem Kleid, das fast bis zur Erde reichte. Mit ausgestrecktem Arm trug sie einen aufgespannten schwarzen Schirm vor sich her, feierlich wie eine Kirchenfahne oder ein Banner. Er schützte ihren Kopf nicht vor der Sonne, und auf dem Kopf hatte sie ein Stück weißen Schleier, dessen Enden ihr auf den Rücken herabfielen." [15]

Von der Djušenka wird die Frau deshalb als gemütskrank, von der Fischerin als verrückt bezeichnet. Diese Eingangsszene ist gekennzeichnet durch kurze Beschreibungen der Figuren und durch Dialoge. Es gibt keine dominierende Figur, alle werden gleichermaßen (kurz) charakterisiert. Auch ihre Gedanken werden wiedergegeben, aber ebenfalls nur kurz und konkret - bezogen zum Beispiel auf die Erscheinung des Mädchens Ira in ihrer Runde.

Der permanente Wechsel von direkter Rede und der Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen von sechs verschiedenen Menschen erzeugt das Unruhige und Hastige der Darstellung, was den Gegensatz zu dem nachfolgenden Abschnitt noch verstärkt.

Zunächst aber wird die Fernsicht auf die Frau mit dem Schirm beibehalten. Der mit ehrlicher Entrüstung vorgetragene Einwand von Ira, die Frau sei keine Verrückte, sondern eine Moskauer Professorin, veranlasst Igor, die Angaben nachzuprüfen, indem er sich der Frau als Journalist vorstellt und sie ausfragt. Auch das wird von den Urlaubern beobachtet und mit ironischen Kommentaren versehen. Über die tatsächlich gemachten Aussagen im Gespräch erfährt man nur das, was Igor nach seiner Rückkehr erzählt: dass die Frau Sofja Petrovna Koreckaja heißt, Biologin ist und wirklich Professorin an der Moskauer Universität. Daraufhin kommt es zu einem Streit zwischen Ira und der Fischerin.

Die Sympathielenkung ist jedenfalls recht eindeutig. Ira ist eine gutaussehende und selbstbewusste junge Frau. In der Diskussion, in der in echt russischer Manier die Standpunkte mit Aussagen von Autoritäten aus der russischen Literatur belegt werden, erweist sich Ira als größere Kennerin. Die Fischerin hat nicht einmal einen eigenen Namen, sondern heißt nach ihrem Mann. Beide Eheleute sind zudem äußerlich kaum voneinander zu unterscheiden. Die Fischerin hat für den Leser auch deshalb Unrecht, weil "die Frau mit dem Schirm" als äußerst sympathisch und überhaupt nicht verrückt dargestellt wird.

In diesem Text spielen Dialoge eine große Rolle. In der ersten und letzten Szene erscheint dieser sogar "pur", wird auf Zwischentexte verzichtet. Die Wirkung von "Ženšcina s zontikom" beruht so vor allem auf dem Gegensatz zwischen den hastigen, oft oberflächlichen Dialogen der Urlauber und dem Nachdenken der Professorin.

"Nedelja kak nedelja"

"Eine Woche wie jede andere" ist wohl der bekannteste Text Natal'ja Baranskajas. Die von ihr als Povest' bezeichnete längere Erzählung umfasst ca. 30 Seiten. Darin berichtet die Ich-Erzählerin über eine Woche ihres Lebens. Sie erzählt, was sie den Tag über macht: von sechs Uhr morgens bis gegen Mitternacht. Wie sie arbeitet, in der Mittagspause einkaufen geht, mit den immer überfüllten Verkehrsmitteln früh zur Arbeit und abends nach Hause hastet, welche Aufgaben sie früh, welche abends im Haushalt zu erledigen hat und wie das Wochenende verläuft.

Bei den Aufzeichnungen handelt es sich jedoch nicht um Tagebucheintragungen - dazu hätte die Erzählerin gar keine Zeit - sondern um eine detaillierte Aufzählung und Beschreibung alltäglicher Gegebenheiten und Probleme.

Olga Voroncova ist 26 Jahre alt, verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Sie arbeitet in einem Labor, in dem Materialien für neue Baustoffe entwickelt werden. Die Arbeit macht ihr Spaß, und sie möchte sie gut machen, aber dies gelingt ihr nicht immer.

Es beginnt damit, dass die Erzählerin - zum wiederholten Mal - zu spät zur Arbeit kommt.

"Ich renne, haste, und auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage laufe ich Jakow Petrowitsch in die Arme. Er bittet mich zu sich, fragt, wie es mit der Arbeit vorangeht. Kein Wort verliert er über mein Zuspätkommen - ich habe mich um fünfzehn Minuten verspätet." [16]

Ihr Vorgesetzter rügt sie zwar nicht, fragt sie (und sich) aber besorgt, ob sie wohl ihre Arbeit schaffen wird. Olga weiß es auch nicht. Hatte sie doch gerade in der montagmorgendlichen Hektik verzweifelt alles "zum Kukuck" gewünscht, um sich gleich darauf energisch zur Ordnung zu rufen.

"...'Zum Kuckuck mit allem!'

Aber das ist Unsinn. Gar nicht zum Kuckuck mit allem - alles ist gut, alles ist schön. Wir haben eine Neubauwohnung bekommen, Kotka und Gulka sind großartige Kinder, Dima und ich lieben einander, ich habe eine interessante Arbeit. Absolut nicht zum Kuckuck mit allem, warum auch, nicht zum Kuckuck und nicht anderswohin. Unsinn.") Solche Gedanken erlaubt sie sich auch nicht wieder, aber ihre Erschöpfung und ihre innere Unruhe vergehenicht. So heißt es am Schluss des Textes:

"Mitten in der Nacht werde ich wach und weiß nicht wovon. ...
Was beunruhigt mich wohl?
Ich weiß es nicht."

In ihrem Labor, in dem fast ausschließlich Frauen arbeiten, wird eine soziologische Befragung nach der zeitlichen Belastung der Frau, dem Arbeitsausfall durch Krankheiten der Kinder sowie nach Gründen für die geringe Kinderzahl durchgeführt. Olga ist die einzige Mutter mit zwei Kindern und hat die meisten Fehlzeiten. Wenn Belange der Arbeit zur Sprache kommen, schämt sich Olga daher ihrer Kinder, denn sie bedeuten häufiges Zuspätkommen, vor allem Arbeitsausfall wegen Krankheiten.

Olgas häufigste Gefühle sind Hast und die Angst, ihre Arbeit - im Labor und zu Hause - nicht zu schaffen.

Olga ist nicht "in der schlechtesten Lage von allen Frauen" [17] selbst betrachtet sich sogar als die "Glücklichste". Tatsächlich sind bei Olga "positive" und "negative" Seiten gemischt.

Sie betrachtet sich selbst als "Glücklichste" der vier "jungen Mütter" des Labors, weil bei ihr das familiäre Umfeld in Ordnung ist. Sie verfügt über eine ausreichend große Neubauwohnung, ihr Mann trinkt nicht (wie der ihrer Kollegin Šura) und bedrängt sie auch nicht, ihre Arbeit aufzugeben (wie der Mann der dunklen Ljusja, obwohl Olgas Mann Dima der Gedanke nicht fremd ist). Sie hat jedoch keine Verwandten, die ihr bei der Betreuung der Kinder helfen könnten.

Ein Dasein als Hausfrau wird von Olga nicht als Alternative betrachtet. Sie beharrt auf ihrem Recht auf eine interessante Arbeit, die alleinige Arbeit im Haus erscheint ihr stupide und nicht erfüllend. So macht sie beides. Denn auch die Möglichkeit, der Mann könnte mehr im Haushalt machen, die Arbeit könne gar geteilt werden, wird nicht in Betracht gezogen. Auf diesen Gedanken kommt die Erzählerin nicht, dazu ist die Rollenverteilung zu festgeschrieben. Obwohl der Mann seine Pflichten hat, die er auch erfüllt, kann er den Feierabend nutzen, um sich zu erholen.

"Dima kehrt zum Tisch zurück. Er liebt es, in Ruhe seinen Tee zu trinken, einen Blick in die Zeitung zu werfen, ein wenig zu lesen."

So berichtet die Erzählerin, und sie sagt es ohne Ironie, während sie Geschirr spült, die Kindersachen auswäscht usw., sie will ihm dies nicht nehmen. Sarkastisch wird sie erst, als sie am Ende ihrer Kraft ist, am Sonnabendabend, nach einem Tag ununterbrochener Arbeit im Haushalt, als sie Dima um Hilfe bittet, dieser aber gerade für sich beschließt, er habe für heute genug für die Familie getan.

"'Dima, nimm die Kleine!' rufe ich.
Und höre als Antwort: 'Vielleicht reicht es für heute? Ich will etwas lesen.'
'Und ich nicht?'
'Nun, das ist deine Sache, ich aber muß.'"

Nach diesem Wortwechsel hat Olga einen Nervenzusammenbruch. Und nun ist Dima tatsächlich jener verständnisvolle Mann, als der er von Olgas Kolleginnen betrachtet wird. Als er sieht, dass seine Frau am Ende ihrer Kraft ist, lässt er sie sich hinlegen und übernimmt für diesen Abend die weiteren Aufgaben. Aber als Lösung fällt ihm auch nur ein, Olga solle aufhören mit arbeiten. Auch er ist durch die Familie und den Haushalt in gewisser Weise belastet, würde gern mehr in seine Arbeit investieren.

Olga kann mit ihrem Mann nicht über ihre Probleme sprechen, schon gar nicht über "große" Fragen, wie sie es gerne möchte. Die Unterhaltung beschränkt sich auf Alltagsprobleme.

Trost findet Olga bei ihrer Kollegin und Freundin Ljusja. Überhaupt ist die Solidarität der jungen Frauen untereinander die einzige Stütze, die Olga hat. So gehen sie abwechselnd für alle einkaufen und versuchen auch sonst, sich zu unterstützen.

Die soziologische Untersuchung, die in der Woche durchgeführt wird, gibt der Erzählerin die Möglichkeit, die unterschiedlichen Situationen der einzelnen Frauen darzustellen wie auch die bewegenden Fragen direkt zu diskutieren. Insbesondere betrifft dies den Bereich sinkender Geburtenzahlen. Jedoch kommt es, wie die Erzählerin bedauernd feststellt, zu keinem wirklich "ernsthaften" Gespräch", zu unterschiedlich sind nicht nur die Haltungen der Frauen selbst, auch die äußeren Umstände diktieren die Möglichkeiten.

Olga hat zwei Kinder, weil sie sich nicht zu einer Abtreibung entschließen konnte, und lebt in ständiger Angst, wieder schwanger zu werden. Ihre Kollegin Ljusja Matevosjan wollte auch ein zweites Kind, hatte sogar ihrem Chef ihre Idee von einer glasfaserverstärkten Plaste vermacht, dann aber doch - heimlich, ihr Mann durfte davon nichts erfahren - abgetrieben im Bewusstsein, sonst auf das Schreiben einer Dissertation verzichten zu müssen. Diese Geschichte schleppt sie lange mit sich herum, kann sie niemanden erzählen, bis sie sie schließlich Olga anvertraut.

Über die Entstehung des Textes schreibt Natal'ja Baranskaja in einem Interview:

"Die Idee zu 'Nedelja kak nedelja' kam mir beim Lesen eines Zeitungsartikels... (dort war) die Rede von einer Frau, die erfolgreich in ihrem Beruf arbeitet, zwei Kinder großzog, den Haushalt beispielhaft führte, in deren Ehe alles wunderbar glatt lief, die noch Zeit für politische und sonstige Tätigkeiten fand und alle diese Aufgaben natürlich vorbildhaft erfüllte. Diese Lobhudelei ärgerte mich dermaßen, da mir sofort klar war, dass es eine solche Frau nicht geben konnte... Ich warf wutentbrannt die Zeitung auf den Boden und begann, eine Darstellung des sowjetischen Alltags einer jungen berufstätigen Frau mit mehr Realitätsbezug niederzuschreiben." [18]

Es ist sicher kein Wunder, dass die Erzählung ein starkes Echo hervorrief und kontrovers diskutiert wurde. [19] Der "offizielle" Ruhm blieb der Erzählung versagt - darauf verweisen auch die späteren Schwierigkeiten für Natal'ja Baranskaja, ihre Texte zu veröffentlichen - Heldin, Thema und Problemstellung der Geschichte waren ein "heißes Eisen".

Diskussionen rief nicht die künstlerische Gestaltung hervor - diese erschien ausreichend konventionell - als vielmehr die Zerstörung von Illusionen, die Dekonstruktion des offiziellen Bildes der Sowjetfrau, wobei hinzukam, dass auch keine "Lösungen" angeboten wurden.

Die Erzählung musste auch im westlichen Ausland Aufmerksamkeit erregen, waren doch die Probleme beruflich engagierter Frauen und vor allem berufstätiger junger Mütter so verschieden nicht. Auffallend ist, dass in deutschsprachigen Analysen des Textes die Meinungen über dessen künstlerische Gestaltung weit auseinandergehen.

Elsbeth Wolffheim nennt ihn zunächst "eines der aufschlußreichsten Soziogramme der Situation der modernen sowjetischen Frau", in dem später erschienenen Artikel lobt sie die Neuheit des Themas, meint aber dann: "Dass die 'Povest' nicht mehr darstellt als ein geschickt aufbereitetes Soziogramm, muß wohl hingenommen werden." [20]

Eine völlig andere Ansicht vertritt Jochen-Ulrich Peters. Für ihn besticht der Text "vor allem durch die außerordentliche Direktheit und Präzision sowie die Spannung und innere Erregung, die durch die faktographische Schreibart im Bewußtsein des Lesers hervorgerufen wird." Weiter heißt es:

"Die vermeintliche Wirklichkeitstreue und die faszinierende Unmittelbarkeit und Spontanität darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier mit einem sehr bewußt und kunstvoll durchkomponierten und ausformulierten Text zu tun haben."

Peters sieht im Text eine komplexe innere Struktur: er sei durch die chronologische Abfolge der sieben aneinanderfolgende Wochentage sowie durch "wenige durchhaltende Motive" - das abgerissene und nie angenähte Häkchen am Mantel der Heldin, den unerbittlich tickenden Wecker sowie die soziologische Befragung miteinander verklammert. [21]

Ich-Erzähler sind die Ausnahme bei Natal'ja Baranskaja. (Wir finden ihn - mit unterschiedlicher Bedeutung - nur noch in "Podselenka i koška"und "Košelek".) Das Erzählen in der ersten Person bedingt jedoch nicht nur ein hohes Maß an Authentizität, sondern auch bewusste Subjektivität. Die Erzählerin spricht ihre Probleme offen aus, artikuliert ihren Ärger. Und trotzdem gibt es - wie in den anderen Texten von Natal'ja Baranskaja - keine explizit ausgesprochene Gesellschaftskritik. Die Dinge, die der jungen Frau das Leben zusätzlich schwer machen, werden benannt, aber nicht in Frage gestellt (selbst die Politschulung, die der Erzählerin die Möglichkeit nimmt, dringende Versuche durchzuführen, wird hingenommen), nur selten ist ein ironischer Kommentar eingeführt. Es gibt keine Lösungen, es ist eine Zustandsbeschreibung. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die konsequente Verwendung des Präsens im Text. Es gibt keinen Abstand zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich, worauf die Dynamik und innere Spannung der Geschichte beruht. Darauf hat Peters mit Recht verwiesen, wie auf die Kontrastwirkung, die die in die Handlung eingeschobene, in der Er-Form und der Vergangenheitsform erzählte Geschichte über die Zeit vor der Ehe erhält. [22]

Eine weitere Besonderheit besteht wohl darin, dass alle Probleme - das mühsame Ringen um den neuen Werkstoff ebenso wie das zeitraubende Anziehen zweier Kinder oder allabendliche Abwaschen - mit der gleichen Intensität beschrieben werden.

"Ich setze die Kinder auf die Couch, schleppe einen ganzen Haufen Kleidungsstücke heran und arbeite für zwei: ein Paar Socken und noch ein paar Socken, die eine Gamaschenhose, die andere Gamaschenhose, Pullover und Jacke, je ein Halstuch, ein Paar Fausthandschuhe und ... 'Dima , wo sind Kotkas Fausthandschuhe?'
'Wie soll ich das wissen?' antwortet Dima, macht sich aber sofort auf die Suche und findet sie, wo sie nicht hingehören - im Bad. Er selbst hat sie gestern dort hingeworfen. Ich ramme zwei Paar Füße in die Filzstiefel, ziehe mit Mühe die Mützen über die hin und her schaukelnden Köpfchen, haste und schreie auf die Kinder ein..."

In den sechziger Jahren wendet sich die sowjetische Literatur von den "großen" Problemen ab und dem Alltag zu. Natal'ja Baranskaja zeigt hier die weibliche Form dieses Alltags. Mir scheint, dass gerade die Fähigkeit, scheinbare Banalitäten in den Mittelpunkt des Schreibens zu rücken, einen Aspekt des weiblichen Schreibens ausmacht.

Weitere Texte von Natal'ja Baranskaja

Ältere Frauen stehen auch im Mittelpunkt anderer Texte von Natal'ja Baranskaja.

In "Podselenka i koška" ("Die Untermieterin und die Katze") wird ein typisches sowjetisches Wohnhaus, ein Neubaublock beschrieben, in dem mehrere alleinstehende ältere Menschen (vier Frauen und ein Mann) als Untermieter eingewiesen sind. Der ältesten Bewohnerin des Hauses ist eine Katze zugelaufen. Ihre Nachbarin - deren Mann im Gefängnis sitzt und deren Sohn große Probleme in der Schule hat - fühlt sich gestört und wirft die Katze aus dem Fenster. Kurze Zeit später stirbt die alte Frau.

Die Erzählung gehört zu den wenigen Texten mit einem Ich-Erzähler. Im Gegensatz zu "Nedelja kak nedelja" und "Košelek" wird hier eine Distanz zur Figur aufgebaut. Die Erzählerin offenbart in ihrem Bericht Gefühlskälte: Sie macht sich über die alte Frau lustig, geht nicht mit zur Beerdigung. Am Schluss begegnet ihr eine Katze, die genauso aussieht wie die der verstorbenen Frau.

Mitunter setzt Natal'ja Baranskaja Ansichten und Haltungen von Frauen direkt gegenüber, so in der Kurzgeschichte "Delikatnyj razgovor" ("Ein heikles Gespräch"), die vom Dialog zweier extrem unterschiedlicher Frauen geprägt ist.

Alevtina Petrovna, eine Datschenbesitzerin, bestellt Zoja Tichonovna, die sich mit Tochter und Enkelsohn in der Nachbarschaft eingemietet hat, zu einem "heiklen" Gespräch zu sich. Ursache dafür ist der Vorwurf Alevtina Petrovnas, Zoja Tichonovnas Tochter Galja würde sich an ihren Schwiegersohn "'ranmachen". Er hatte sie zweimal im Auto nach Moskau mitgenommen. Alevtina Petrovna sieht darin ein höchst unsittliches Verhalten der Frau (denn Galja ist eine alleinstehende Mutter, und Alevtina Petrovnas Tochter zur Kur gefahren), und nach vorsichtigen Beschwichtigungsversuchen von Zoja Tichonovna wird sie hysterisch und fordert eine Veränderung des Verhaltens, sonst würde sie einen Skandal machen.

Zoja Petrovna, die ohnehin Angst vor Alevtina Petrovna hat, bekommt nach diesem Gespräch einen Migräneanfall. Sie gibt die Forderung an Galja weiter, und diese lehnt am nächsten Morgen ein erneutes Mitnehmen im Auto ab.

Interessant ist auch das Verhalten des Schwiegersohnes. Er hat mit Galja nichts im Sinn - außer dass er auf der morgendlichen Fahrt jemanden hat, der ihm zuhört - und ist gekränkt wegen des Misstrauens. (Er hatte Liebschaften gehabt, aber davor weiß Alevtina Petrovna natürlich nichts.) Trotzdem verzichtet er auf eine Auseinandersetzung mit seiner Schwiegermutter, da sie sich zwar überall einmischt, aber seiner Familie den Haushalt führt, und so ihm und seiner Frau ein ungestörtes Arbeiten und Leben ermöglicht.

Zwei Frauen werden gezeigt: beide sind im Rentenalter, ohne Männer, in ähnlicher Lebenssituation - sie kümmern sich um die Familien ihrer Töchter. Ihre "Gleichbehandlung" durch den Erzähler wird auch durch die Nennung beider Frauen durch Vor- und Vatersname deutlich.

Doch welche Unterschiede in Haltung und Verhalten! Über Alevtina Petrovna sagt ihr Schwiegersohn:

"Es existiert kein Winkel in ihrem Leben, in den sie ihre Nase nicht stecken würde." [23]

Sie mischt sich nicht nur überall ein, sondern hat einen feststehenden Moralkodex, verträgt keinen Widerspruch. Sie wird jedoch ausschließlich über ihr Verhalten und ihre Worte, ihre Art zu sprechen, ihre Gesten charakterisiert, es gibt keine Erzählerkommentare über sie. Es werden nur die Gedanken und Gefühle von Zoja Tichonovna dargestellt.

So zeigt Natal'ja Baranskaja in ihren Texten anhand scheinbar alltäglicher Dinge vielfältige Spielarten herzlosen Verhaltens, die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Es sind kurze Momente, die das Leben der Helden verändern. Sie selbst können jedoch nichts verändern. Das zeigt sich in dem eben beschriebenen Text ebenso wie in der Erzählung "Devocka u morja".

Hier lernt die verheiratete, aber kinderlos gebliebene Lehrerin Vera Alekseevna während eines Kuraufenthaltes ein zwölfjähriges, offenbar intelligentes, aber vernachlässigtes Mädchen kennen. Sie freunden sich an, und Vera versucht, sie ein wenig zu "entwickeln", bis ihr der Umgang von der Mutter des Mädchens - einer nicht mehr jungen Frau, die das Kind von einem Kurgast hat - verboten wird. Auch das Mädchen braucht Vera Alekseevna im Grunde genommen nicht.

Im Gegensatz zu den bisher gezeigten Frauen kann Lajne - die einzige Nicht-Russin unter den Heldinnen von Natal'ja Baranskaja aus der Geschichte "Dom Lajne" mit ihrem Leben zufrieden sein. Sie hat Mann und Kinder, ein noch von ihrem Großvater geerbtes Haus, eine interessante Arbeit - sie stellt in Handarbeit Teppiche und Läufer her - und verdient im Sommer zusätzlich Geld durch Urlaubsgäste. Aber als im Gespräch mit diesen die Rede zufällig auf die Legende vom ungehorsamen Sohn kommt, der zur Strafe unter einem Haus vergraben wurde, muss sie wieder daran denken, dass unter ihrem Haus seit fünfundreißig Jahren ein Toter liegt - ihr als verschollenen geltender Bruder. Er war während des Krieges verwundet nach Hause gekommen und gestorben. Die Mutter hatte aus Angst keinen Arzt gerufen und den Toten schließlich im Keller begraben.

Die Estin Lajne hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet und wird es weiter tun, solange die Kräfte reichen. Sie kann die Russen nicht verstehen, die Geld ausgeben für ein Sommerquartier. Sie schätzt Dinge, die einen sichtbaren Nutzen haben wie Haushaltsgeräte. Die Gedanken an den Bruder verdrängt sie.

Wie bereits erwähnt, hat Natal'ja Baranskaja ein starkes Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere an solchen zwischen Eheleuten. Auch hier werden die verschiedensten Spielarten, inklusive Partnerwechsel, durchgespielt.

"Molodoj veselej foks"( "Junger, lustiger Foxterrier"), "Pantelejmon, Pantelejmone", "Grešnica i pravednica" ("Die Sünderin und die Gerechte"), "Pervocvet" ("Das Veilchen"), "Partnery" ("Partner") oder "Tichaja noč' v Roosne" ("Eine stille Nacht in Roosna"). Hier spielen natürlich auch männliche Figuren eine größere Rolle. Charakteristisch ist, dass die Männer oft nicht zu Entscheidungen fähig sind, entweder das gewohnte Leben weiterführen oder freiwillig verzichten.

Ein Beispiel dafür ist die Erzählung "Molodoj veselej foks" .

Hier ist die Stimme des Erzählers deutlich vernehmbar. Dies muss sie auch, denn das Geschehen hat einen Anflug des Mystischen. Der sechzigjährige Artmenij Nikolevic sieht an der Bushaltestelle eine Anzeige, in der ein "kleiner, lustiger Foxterrier" zum Verkauf angeboten wird; er merkt sich aus irgendeinem Grund die Telefonnummer, irgendetwas drängt ihn, dort anzurufen. Er trifft sich mit der Frau und will sie unbedingt wiedersehen. Die nächste Begegnung aber wird gestört durch einen betrunkenen Mann, offenbar der Sohn der Frau. Artmenij Nikolevic will den Hund kaufen, aber seine Frau ist strikt dagegen. Er kann sich ihr gegenüber nicht durchsetzen und vergisst die Telefonnummer so plötzlich, wie er sie sich gemerkt hatte.

Die Distanz zur Figur ist größer, sie hat nicht die uneingeschränkte Sympathie des Erzählers; so leidet zwar Artmenij Nikolevic unter der Langeweile seiner Ehe, will aber keine Veränderung. Der Erzähler beschreibt seine Motive, im Bezug auf die Situation der ehemaligen Sängerin bleibt der Leser jedoch auf Vermutungen angewiesen.

Noch deutlicher wird der Erzähler in "Grešnica i pravednica": einer der wenigen Texte, in denen ironische Erzählerkommentare zu finden sind. Die "Sünderin" hat der "Gerechten" den Mann abspenstig gemacht, den jene sich nun mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln zurückholt. Auch durch die Entwicklung des Sujets wird die Sympathielenkung eindeutig: die Gerechte erweist sich als noch "schlimmere" Sünderin: sie hat ihrem Mann das Kind ihres Liebhabers "untergeschoben".

Spezifika der Texte von Natal'ja Baranskaja

Die Texte von Natal'ja Baranskaja, die auf den ersten Blick wenig strukturiert erscheinen, weisen eine ganze Reihe von Besonderheiten auf.

Es werden oft nur wenige Stunden aus dem Leben der Helden herausgegriffen. Die Geschichten enden so abrupt, wie sie begonnen haben, dass heißt charakteristisch sind kurze Erzählanfänge und offene Erzählschlüsse.

Scheinbare Kleinigkeiten, Banalitäten ändern das Leben der Figuren, ohne dass sie selbst etwas ändern können. Das betrifft Anna Vasil'evna aus "Provody" ebenso wie Elizaveta Nikolaevna aus "Kraj sveta" oder Vera Alekseevna aus "Devocka u morja". Mitunter ändert sich - trotz zahlreicher Episoden - nichts ("Nedelja kak nedelja") oder die Veränderungen sind selbst nicht Gegenstand der Erzählung. So in "Partnery", wo von einem miteinander verheirateten Ballettänzerpaar erzählt wird. Beide sind in einem Alter, in dem in absehbarer Zeit der Abschied von der Bühne erfolgen muss. Die Veränderungen werden gedanklich durchgespielt, in der Geschichte selbst passiert nichts.

Natal'ja Baranskaja geht es also vor allem um die inneren Zustände ihrer Figuren. So erfolgt die Sympathielenkung als Teil der Charakterisierung häufig über die Gewährung oder Verweigerung von Innensicht. Negativ besetzte Figuren - die Männer aus "Pis'mo", Direktor und Gewerkschaftsvorsitzende aus "Provody", Alevtina Petrovna aus "Delikatnyj razgovor"- werden sehr genau beschrieben, aber nur von außen gesehen.

Der Erzähler bei Natal'ja Baranskaja

Es gibt in den Texten von Natal'ja Baranskaja keinen einheitlichen Erzähler, aber bestimmte Tendenzen. Bevorzugt werden beobachtende und beschreibende Er-Erzähler.

In Texten, in denen eine Figur dominiert, findet sich durchgehend ein bestimmtes Verhältnis des Erzählers zu dieser Figur. Er gewährt nicht nur Einblick in deren Gedanken- und Gefühlswelt, sondern weiß mehr über sie als diese selbst und kennt deren Charakter. Im Gegensatz dazu werden die anderen Figuren aus der Perspektive des Helden gesehen, der Erzähler weiß nicht mehr als dieser. Besonders deutlich wird dies in "Kraj sveta", "Molodoj veselej foks", "Devočka u morja" oder "Dom Lajne". Wenn mehreren Figuren Innensicht gewährt wird - wie in "Provody" oder "Delikatnyj razgovor" - wird der Hauptfigur am meisten Platz eingeräumt.

In Texten, die vorrangig Partnerbeziehungen gewidmet sind - zum Beispiel "Partnery" oder "Pamtelejmon, Pantelejmone", wird beiden Innensicht gewährt. Es sind auch längst nicht in allen Texten negativ besetzte Figuren zu finden.

Der Erzähler hält sich also zurück. Er verzichtet in der Regel auf Kommentare, lässt Handlung und Verhalten der Figuren für sich sprechen.

Anmerkungen

[1] Angaben nach: N. Baranskaja, Eine Autobiographie, die nichts verschweigt, in: Osteuropa, 7/1990, S. 573 ff.
[2] Vgl. Ch. Müller-Scholle, Das Bild der Frau in der zeitgenössischen russischen Prosa, in: Zeitschrift für slavische Philologie. Band XLVIII / 1988, S. 336.
[3] Literarischer Dialog. Festschrift für W. Kasack zum 65. Geburtstag. Mainz 1992, S. 77.
[4] N. Baranskaja, Pis'mo, in: Ebd., S. 71. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
[5] V. šklovskij, Iskusstvo, kak priem, in: O teorii prozy, Moskva 1925, S. 14.
[6] Ebd., S. 17.
[7] Zu diesem Begriff vgl. W. Füger, Zur Tiefenstruktur des Narrativen. Prolegomena zu einer generativen "Grammatik des Erzählens", in: Poetica, 5/1972, S. 268 ff.
[8] J. H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart, Weimar 1993, S. 74.
[9] F.K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 1991, S. 174.
[10] Literarischer Dialog, S. 77.
[11] N. Baranskaja, Provody, in: Novyj mir, 4/1968, S. 77. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
[12] V. Šklovskij hatte seine Verfremdungskonzeption auch anhand einer Szene aus "Vojna i mir" von Lev Tolstoj erläutert, in der durch die Perspektive der theaterunerfahrenen Nataša die Beschreibung des Wesentlichen einer Oper durch eine übergenaue Darstellung des technischen Ablaufs sowie der Kleidung und des Benehmens der Sänger und Tänzer ersetzt wird. - Vgl. V. Šklovskij, Iskusstvo kak priem, S. 14.
[13] N. Baranskaja, Kraj sveta, in: Dies., Ženščina s sontikom. Moskva 1981, S. 144.
[14] Natal'ja Baranskaja zu einigen Aspekten ihres Werks. Ein Interview, in: Osteuropa, 7/1990, S. 590.
[15] N. Baranskaja, Ženščina s zontikom, in: Dies., Ženščina s zontikom, S. 177.
[16] N. Baranskaja, Nedelja kak nedelja, in: Novyj mir, 11/1969, S. 23.
[17] W. Kasack, Natalja Baranskaja, in: Osteuropa, 1/1981, S. 26.
[18] Natalja Baranskaja zu einigen Aspekten ihres Werkes. Ein Interview, in: Osteuropa, 7/1990, S. 589.
[19] Diese Diskussion konnte noch nicht eingesehen werden. Es gibt in späteren Arbeiten keine konkreten Verweise auf sie.
[20] Vgl. E. Wolffheim, Die Frau in der sowjetischen Literatur. 1917 bis 1977, Stuttgart 1979, S.113.- Dies., Die alte Moral. Frauenbilder in der neueren sowjetischen Epik, in: Festschrift für Georg Mayer. München 1991, S. 224.
[21] J.-U. Peters, Utopien vom "anderen Leben". Sowjetische Frauenliteratur zwischen Faktographie und Fiktion, in: Russische Sprache und Literatur der Gegenwart in Unterricht und Forschung. Hamburg 1982, S. 182 ff. Für Peters weist der Text der Baranskaja eine ähnliche Geschlossenheit und suggestive Wirkung auf wie Aleksandr Solcenicyns Povest' "Odin den' Ivana Denisovica". - Vgl. ebd., S. 186.
[22] Vgl. ebd., S. 186.
[23] N. Baranskaja, Delikatnyj razgovor, in: Zvezda, 8/1973, S. 119.

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