Frauenliteratur und ästhetische Wertung

Es gibt kaum etwas schwierigeres als eine (wirklich begründete) ästhetische Einschätzung eines literarischen Werkes. Das hat gerade die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft sehr deutlich bewiesen. Abgesehen davon, dass ästhetische Urteile immer von den jeweils herrschenden Normen beeinflusst sind, hat der Jahrhunderte währende Ausschluss von Frauen aus der Literaturgeschichte gezeigt, dass ästhetische Normen vom "männlichen" Literaturverständnis geprägt waren und immer noch sind.

Eine noch größere Bedeutung als ästhetische Normen haben die ideologischen. Bei der Einschätzung eines literarischen Werkes muss zwischen beiden "Komponenten" unterschieden werden. Die Kritik des Frauenbildes in einem literarischen Werke ist eine ideologische, zum Beispiel von einem feministischen Standpunkt aus. Überhaupt ist die Frage des Standpunktes (auch für den Versuch der Einschätzung der "künstlerischen Qualität") entscheidend. Ein Standpunkt ist objektivierbar (begründbar), aber nicht objektiv.

Die Einschätzung eines Werkes erfolgt immer durch den Vergleich mit anderen Werken, d.h. es muss zunächst ein Maßstab (eine Norm) gesetzt werden.

Für die sowjetische Literatur ab den sechziger Jahren könnte ein solcher Maßstab einerseits die Norm des "sozialistischen Realismus" sein. Danach würden die Abweichungen, die die literarischen Werke aufweisen (und die so die tatsächliche Entwicklung der Literatur verkörpern) zu einer Aufweichung, Modifizierung der "Doktrin" führen. Welche Normen beibehalten und welche aufgegeben wurden, ist unter anderem an der Bildung und Entwicklung des literarischen Kanons zu sehen. Beibehalten wurden als Wertmaßstab: die "Tiefe und Bedeutsamkeit der Problematik" (Zitate aus: Literaturwissenschaft. Eine Einführung), Realismus, künstlerische Einheit und Ganzheitlichkeit.

(Zumindest teilweise) aufgegeben wurde der auktoriale Erzähler, was die ideologische Einschätzung erschwert und breiteren Raum für Diskussionen lässt.

Man/frau kann also für die sechziger bis Mitte der achtziger Jahre (sozialistisch verbrämtes) ästhetisches Wertesystem zugrunde legen, um den Ausschluss der Frauen aus dem Literaturkanon zu begründen (und natürlich auch den bestimmter Texte von männlichen Autoren). Wird als Korrektiv die westliche (hier im wesentlichen: westdeutsche) russistische Forschung betrachtet, ergibt sich ein etwas anderes Bild.

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